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Nehmt meine Musik oder lasst es bleiben. Der Tenorsaxofonist James Brandon Lewis, Kopf des Unruly Quintets.

© Diane Allford

Jazzfest Berlin 2019: Das Unpassende zusammenfügen

Hitzköpfe, unverwüstliche alte Männer und junge Frauen: Eindrücke vom Jazzfest Berlin, bei dem das Publikum sich wie zwischen Matratzenlager und Stadion fühlt.

Von Gregor Dotzauer

Und diese fünf, könnte man fragen, sollen zur Zukunft des Jazz gehören? Wer die letzten vierzig Jahre verschlafen hätte, wäre in der Nacht zum Sonntag beim Unruly Quintet des amerikanischen Tenorsaxofonisten James Brandon Lewis im Quasimodo wohl tatsächlich erst einmal von einem Déjà-vu überwältigt worden.

Oder waren sie selbst aus der kryonischen Tiefkühlung des rauen Free Funk aufgetaut, der Anfang der 80er Jahre mit Ronald Shannon Jacksons Decoding Society und dem Gitarristen James Blood Ulmer en vogue war?

„This is for Ornette Coleman and Charlie Haden“, sagt Lewis zu Beginn, und schon brausen sie los, hinein in eine Dauerekstase, die sich bereits nach den ersten Minuten nicht mehr steigern lässt. Drummer Warren G. „Trae“ Crudup III teilt nach allen Beckenrichtungen aus, Luke Stewart rupft vehement an seinem E-Bass herum, und James Brandon Lewis setzt mit breitem Ton auf volles Rohr.

In der Klangschichtung erinnert dies an Colemans Harmolodics, sein System musikalischer Organisation. Und doch handelt es sich nicht einfach um einen Aufguss: Die ohrenbetäubende Intensität jener Zeit, die keiner dieser Mittdreißiger miterlebt hat, lässt sich nicht imitieren, man kann sie nur wiederbeleben. Und das geschieht in Gestalt von jungen Frauen, die sich damals kaum auf die Bühne verirrt hätten.

Mit der Trompeterin Jaimie Branch, die vergangenes Jahr mit ihrer Band Fly or Die das Jazzfest zu Jubelstürmen hinriss, verfügt das Unruly Quintet über ein Energiebündel, das dem Kollektivsound traumverloren lässig Spitzen aufsetzt. Und mit Ava Mendoza prägt eine Gitarristin das Klangbild, die sich mit den dreckigeren Nuancen ihres Instruments zwischen Blues-Roots und Noise auskennt.

In der Tradition von Ornette Coleman

Solch eine Musik funktioniert spätabends in einem Club sicher am besten. Auf der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele würde sich ihr Druck schnell verlieren. Die Tradition von Ornette Coleman kommt aber auch hier zu ihrem Recht – und zwar unmittelbar.

Unter dem Motto „Melodic Ornette“ hat Joachim Kühn sich mit der Bigband des Hessischen Rundfunks zusammengetan und Stücken des großen Altsaxofonisten, mit dem er selbst einst spielte, von Dirigent Jim McNeely orchestrale Arrangements geben lassen, aus denen er mit einem eigens zusammengestellten Quartett immer wieder solistisch heraustritt.

Bei Kühn, einem Stammgast des Jazzfests, könnte man erst recht von einem Déjà-vu sprechen. Mit seinen 75 Jahren genießt er den Ruf einer pianistischen Legende.

Aber jeder Tonwirbel, den er mit dem französischen Bassklarinettisten Michel Portal, der Ende des Monats 84 Jahre alt wird, dem immerhin 64-jährigen Schlagzeuger Joey Baron und dem 58-jährigen, einzigartig beweglichen Bassisten François Moutin entfacht, zeugt von einem Musizieren im glühenden Moment. Ein Aufstand alter Männer, der die Jungen das Fürchten lehren könnte, wenn sie diese dialogische Meisterschaft nicht zum Vorbild nehmen müssten.

Zur Arena umgestaltet

Im erstmals zur Arena umgestalteten Haus dringt ihr Triumph in alle drei Zuschauerbereiche vor, hinter und neben der Bühne. Im großen Auditorium finden sich überdies sechs Reihen mit Matratzen, die nicht nur Rückenkranke vor die Aufgaben stellen, eine Position einzunehmen, die sich auf Dauer durchhalten lässt. Die Distanz zum Geschehen ist für viele im Auditorium gewachsen: Zwei große Bildschirme zeigen mit dem Livestream von Arte Concert, was geschieht. Damit kommt ein Hauch von Stadion ins Spiel, der den Blick zwischen Screen und Bühne wandern lässt.

Im zweiten Jahr ihrer künstlerischen Leitung hat Nadine Deventer ihren Mut zur eigenwilligen, auf Stars weitgehend verzichtenden Programmierung bekräftigt, und der Zuspruch hat ihr darin rechtgegeben. Sie kann auf viele Deutschlandpremieren verweisen – und auf die Erfindung von Late Night Labs für kleinere Formationen in einem interdisziplinären Kontext: Nur dafür waren beim sonst ausverkauften Festival noch Karten zu bekommen.

In welch unterschiedlichen Verzweigungen es mit dieser Musik weitergehen könnte, zeigten Projekte wie Ambrose Akinmusires „Origami Harvest“, das die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren zwischen spätromantischen Texturen für das Mivos Streichquartett, halb gesungenen, halb gerappten Spoken-Word-Beiträgen des fantastischen Vokalisten Kayoki und zerbrochenen Beats des Drummers Justin Brown in neue Höhen treibt.

Ausufernder Minimalismus

Das von Peter Knight geleitete Australian Art Orchestra betreibt dagegen eher eine Art von ausuferndem Minimalismus, der sich in der Illustration von Gerald Murnanes Roman „The Plains“ bewährte.

Christian Lillingers „Open Form For Society“ dagegen scheut sich gegen Komposition als Repräsentation imaginierter Klänge. Die mit europäischen Spitzenmusikern wie dem Vibraphonisten Christopher Dell oder dem Bassisten Petter Eldh besetzte Band des Schlagzeugers versteht sich eher als eine Konzeptmaschine, die sich Strukturen gibt, um sie improvisierend gleich wieder zu sprengen.

[Auf Arte Concert sind die Konzerte auf der Hauptbühne noch bis 10. 11. abrufbar.]

Eine Musik von verwirrender Dichte, die an ein All-over-Painting erinnert, voller zerbrochener Grooves und einem machtvollen Canlon-Nancarrow-haften Klöppeln, das sich, elektronisch verarbeitet, im Spielen schon wieder verwandelt.

In seiner Stilturbine verwirbelt Brian Marsella fast die ganze Geschichte des Jazz: am einen Ende das mit der Linken Bass und Akkordharmonien gemächlich ausschreitende Stride Piano eines Fats Waller, am anderen Ende die rasenden Clusterkaskaden von Cecil Taylor. Dazwischen die rhapsodische Blüte von Chopin-Walzern, angereichert mit der Pracht von George Gershwin, unterbrochen von Thelonious-Monk-Momenten – und das alles mit der atemberaubenden Virtuosität eines Art Tatum.

Polyglotter Zauberkünstler

Unter Marsellas Händen wirkt das wie aus einem Guss, bleibt, so mitreißend es ist, aber bei höherer Kombinatorik stehen. Marsella ist ein polyglotter Zauberkünstler, der sich um eine eigene Sprache drückt.

Ein anderer Fall ist die fast gleichaltrige, 1982 in Colmar geborene Elsässerin Eve Risser, die vor vier Jahren mit ihrem White Desert Orchestra schon einmal beim Jazzfest zu Gast war. Ihrem präparierten Konzertklavier hat sie jedes erkennbare Jazzvokabular trotz improvisatorischer Anteile weitgehend ausgetrieben.

In gewisser Weise spielt sie nicht einmal mehr Klavier, sondern betätigt sich mit Händen und Füßen und Schlegeln als One-Woman-Band, wobei eine Fußmaschine über weite Strecken den Unterleib im eisernen Viervierteltakt als Kickdrum traktiert. „Après un rêve“ (als Album bei Cleanfeed) hat etwas von einem im Licht von Glocken- und Schnarrsounds funkelnden Minimal Techno, der aus einfachen Dreiklangsmotiven ein Patterngeflecht entfaltet. Wenn das nicht die große Zukunft ist, so bildet es doch eine hypnotisierende Gegenwart.

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