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Frontmann Kevin Shields von My Bloody Valentine, 2009.

© Seth Moskowitz

Das Rockjahr 1991: Als My Bloody Valentine auf ihrem Höhepunkt waren – und zerfielen

Vor 30 Jahren erlebte das Rock-Genre eine Blüte. Wir schauen zurück auf die zehn wichtigsten Gitarren-Alben des Jahres. Platz 8: „Loveless“ von My Bloody Valentine.

Von Jörg Wunder

Wie revolutionär diese Platte zwischen den Rock-Monsteralben des Jahres 1991 war, zeigt der test of time: Während den anderen Klassikern unserer Top 10 ihre Entstehungszeit anzuhören ist, könnte „Loveless“, das zweite und wichtigste Album der irischen Band My Bloody Valentine, auch vor wenigen Monaten erschienen sein. Denn immer noch, drei Jahrzehnte und unzählige Nachahmungs- und Überbietungsversuche später, gibt es nichts, was so klingt wie dieser 50-minütige Mahlstrom.

Dabei ist es entscheidend, dass die elf Songs nichts von dem haben, was Rockmusik seinerzeit überlebensgroß gemacht hat. Es gibt keine Refrains zum Mitgrölen. Keine Soli zum Luftgitarrespielen. Keine Breaks, keine Riffs. Kaum erkennbare Songstrukturen.

Und: keinen sich in Helden- oder Leidenspose werfenden Frontmann wie Axl Rose oder Kurt Cobain. Obwohl Kevin Shields, das Meisterhirn hinter MBV, während der langwierigen und exorbitant teuren Aufnahmen das Heft in der Hand hielt, klingt das Ergebnis wie ein einziger Kollektivorgasmus.

Die leiernden Schraffuren unzähliger Gitarrenspuren, durch ein Labyrinth von Effektgeräten gejagt, Debbie Googes stoische Bassläufe und Colm Ó Cíosóigs uhrwerkartiges Schlagzeug erzeugen ein dornenheckendichtes Klanggespinst. Über allem schweben die Stimmen von Shields und seiner damaligen Freundin Bilinda Butcher, wie ein weiteres Instrument verfremdet und nach hinten gemischt, in androgynen Verschlingungen mit somnambulen Gleichmut kaum entschlüsselbare Texte deklamierend.

Angeblich hat sich Butcher wiederholt aus dem Tiefschlaf reißen lassen, um schlaftrunken ans Mikro zu treten. Das Ergebnis war eine so nie zuvor gehörte Musik zwischen Tagtraum und Nachtmahr, den Sound jederzeit über den Song stellend – und damit stilprägend für Generationen nachfolgender Bands.

Das Albumcover von "Loveless".
Das Albumcover von "Loveless".

© Warner

Natürlich ist auch ein Ausnahmealbum wie dieses nicht aus dem Nichts gekommen. Krautrock-Fan Kevin Shields hat die Klangflächen von Tangerine Dream ebenso aufgesogen wie Enos Ambient-Alben, die Verzerrerorgien von The Jesus And Mary Chain oder die schlafwandlerischen Elegien der Cocteau Twins. Und er hat mit My Bloody Valentine in wenigen Jahren einen weiten Weg zurückgelegt von epigonalem Indierock zu dem Vorbilder wie Sonic Youth genial verarbeitenden, noch eher konventionellen Debütalbum „Isn’t Anything“ (1988) über wegweisende EPs bis hin zum epochalen Vollrausch-für-alle-Sinne-Pop von „Loveless“.

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Tragischerweise bedeutete „Loveless“ nicht nur den Höhe-, sondern auch den – vorläufigen – Endpunkt im Schaffen von MBV. Das Album war zwar kein Flop, konnte trotz euphorischer Kritiken aber die Erwartungen des Indie-Labels Creation, das eine Viertelmillion Pfund in die Platte gesteckt hatte, nicht erfüllen.

Schlimmer: Shields verzettelte sich bei den Vorarbeiten für einen Nachfolger so heillos wie Brian Wilson beim Versuch, das „Sgt. Pepper’s“-Album der Beatles zu übertrumpfen. Creation kündigte der Band, die sich bald auflöste. Shields wurde zu einem Phantom. Auf einen legitimen „Loveless“-Nachfolger warten die immer zahlreicheren Fans (auf rateyourmusic.com rangiert die Platte als fünftbestes Album der Pophistorie) bis heute vergeblich.

Immerhin erschien 2013 „m b v“, eine Resterampe aus den 90er-Sessions, mehr Zeugnis glorioser Vergangenheit als Gegenwart oder gar Zukunft. Doch vielleicht rafft sich Kevin Shields ja noch mal zu einer Großtat auf. Brian Wilson hat das ja auch hinbekommen.

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