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Eine Demonstrantin streckt einen Regenschirm und ein Schild in die Höhe, während Polizisten mit Tränengas auf sie zielen.

© dpa/Zuma Wire/Keith Tsuji

Proteste in Hongkong: Das Lied der wütenden Leute

Peking feiert 70 Jahre Volksrepublik China. Derweil geht die Gewalt in Hongkong weiter. Wie sich die Einwohner gegen die Kommunistische Partei wehren.

Tsang Chi-kin heißt der schmächtige 18-jährige Schüler, der am 1. Oktober in Hongkong von der Polizei angeschossen und schwer verletzt wurde. 269 Personen wurden am 1. Oktober verhaftet, darunter 93 Studenten. Die Bilanz eines Tages. In Peking paradierten am gleichen Tag Panzer und Raketen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, um den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China zu feiern. Jede Provinz Chinas war mit einem kitschigen Wagen vertreten, so auch Hongkong und Taiwan, das nach dem Willen seiner Bewohner nicht zu China gehört.

In Hongkong war ob der seit vier Monaten anhaltenden Proteste der Bewohner gegen die Diktatur in China das Flaggenhissen am 1. Oktober vorsorglich in eine Konferenzhalle übertragen, das übliche große Feuerwerk abgesagt, die Regierungschefin Carrie Lam kurzfristig nach Peking beordert worden. Ein Berufungsgericht der Stadt hatte entschieden, der von der Civil Human Rights Front für diesen Tag beantragte Protestmarsch dürfe nicht stattfinden. Trotz dieses Verbots gingen wieder über 100 000 Menschen auf die Straße.

Protestiert wird in Hongkong seit 2003 immer wieder gegen die Salamitaktik der Regierung in Peking, vertraglich zugesagte Freiheiten zu beschränken oder gar abzuschaffen. Verzweifelt versuchte in diesen Tagen die Hongkonger Regierung eine Werbefirma zu finden, die das Image der Stadt auffrischt, acht weltweit tätige Agenturen sagten bereits ab. Freie Wahlen für Parlament und Regierungschef will Peking nicht erlauben, wiewohl sie im Basic Law verankert sind.

Dreimal in den letzten vier Monaten gingen deshalb je über eine Million Hongkonger auf die Straße, zur Überraschung der Regierenden. Sie demonstrierten meist friedlich und vordergründig nur gegen ein Auslieferungsgesetz, das mittlerweile zurückgezogen wurde. Denn es geht um die Rechte einer freiheitlich verfassten Zivilgesellschaft.

Kakerlaken, so nannte die Pekinger Regierungspropaganda die Demonstranten in Hongkong. Laut „Hong Kong Free Press“ rief einer der Polizeikommandeure seine Truppen dazu auf, von dieser Dehumanisierung abzusehen, nachdem Polizisten auch Journalisten und Passanten so beschimpft hatten. Mittlerweile werden Journalisten nicht nur beschimpft, sondern auch geschlagen, abgedrängt und mit nichtletalen Waffen beschossen. Eine indonesische Reporterin kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Über 50 Übergriffe in den letzten Wochen auf die Presse meldete die Hongkong Journalists Association.

Mittlerweile hat Peking die Propagandarichtung geändert. Nunmehr sind die durch Immobiliengeschäfte reich gewordenen Tycoons im Visier. Sie sollen gehortetes Land abgeben, damit günstige Wohnungen gebaut werden können. Junge Leute haben immense Schwierigkeiten, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Doch ein junger Student antwortete auf die Frage, was ihm lieber wäre, nur lakonisch: billigere Wohnungen würde er begrüßen, aber auch das allgemeine Wahlrecht fordere er. Peking verteilt derweil Zuckerbrot: Im Norden gebe es die erhofften Jobs und Aussicht auf gutes Leben, aus dem Westen würde eh niemand Hongkong ernsthaft helfen wollen.

Proxies agieren im Sinne Pekings. Der Abgeordnete Roy Kwong wurde am helllichten Tag niedergeschlagen, die Cantopop-Sängerin Denise Ho mit roter Farbe überschüttet. Zahlreiche der Lennonwalls in Hongkong wurden zerstört. Der Präsident der Studentenunion der Hongkong Universität musste nach einem Überfall aus der Stadt fliehen.

In den Social Media wird seit Monaten ein Krieg um die Wahrheit geführt. Am 9. Juni gingen in Hongkong überraschend eine Million auf die Straße, um gegen das erwähnte Auslieferungsgesetz zu demonstrieren. Das Pekinger englischsprachige Blatt „China Daily“, man kann es an deutschen Bahnhofskiosken kaufen, berichtete, 800 000 Demonstranten hätten Peking unterstützt. Fake News auf Chinesisch. Twitter fand Zehntausende von Peking gesteuerte Fake Accounts und hat mittlerweile einige tausend Konten geschlossen, weil sie Falschinformationen über die Bürgerbewegung in Hongkong verbreiten. Youtube hat aus dem gleichen Grund bis jetzt 200 Kanäle abgeschaltet.

Ein Kulturkampf tobt zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und den Bürgern Hongkongs, die sich in zivilem Ungehorsam üben, sich nicht unterwerfen wollen. In Festlandchina ist derweil zwecks Gehirnwäsche das Kleine Rote Buch II auf dem Markt, diesmal digital und mit den Worten des Vorsitzenden Xi Jinping. Es muss die App mit der höchsten Downloadzahl sein. In Hongkong ist die App jedoch kein Erfolg.

Wiewohl früher eher eine Minderheit für die Unabhängigkeit Hongkongs von China plädierte, scheint sich die jüngere Generation heute mehrheitlich eben dafür auszusprechen. Schilder auf Demonstrationen wie „Befreit Hongkong“ oder „Hongkong unabhängig“ belegen das. Auf die Umfrage einer Singapurer Zeitung – „Sind Sie Chinese oder Hongkonger?“ – antworteten 88 Prozent, sie seien Hongkonger.

Als Schüler wie jeden Morgen beim Flaggenhissen die Nationalhymne Chinas singen sollten, stimmten sie stattdessen ein Lied aus dem Musical „Les Misérables“ an: „Hörst du die Leute singen? / Wie sie ein Lied von wütenden Leuten singen? / Es ist die Musik eines Volkes / Das nicht wieder Sklave sein wird! ...“ Das Musical nach Victor Hugos Roman, ein Welterfolg, tourt seit den 1980er Jahren um die Welt. Der Soundtrack wurde sofort aus dem chinesischen Netz verbannt.

Als Heunggongyahn, als Hongkong-Mensch, sieht sich eine Mehrheit. Konsequenz einer intensiven Diskussion, die sich auch auf Ernest Renan bezieht, der 1882 schrieb: „Die Existenz einer Nation ist ein Plebiszit, das alle Tage stattfindet.“ Auch Martin Luther King und John Rawls Theorie der Gerechtigkeit spielen in der unterschätzten intellektuellen Diskussion Hongkongs eine Rolle.

Die auch localism genannte Strömung gewinnt an Zulauf. Hongkong hat in all der Zeit, in der es lange Zeit eine fast undurchlässige Grenze zu Festlandchina gab, eine eigene Identität herausgebildet. Cantopop und Filme haben dazu beigetragen. Und die Sprache. Aussprache und Schreibweise der chinesischen Zeichen sind sehr unterschieden von deren Gebrauch auf dem Festland. Ein Hongkonger und ein Besucher aus Peking benötigen Dolmetscher, um sich zu verständigen. 2014 wurde Mandarin in der Stadt zur Amtssprache erklärt, wiewohl 97 Prozent Kantonesisch sprechen. Wie 70 Millionen im Süden Chinas. Es ist eine weitere Maßnahme in der Strategie Pekings, das Hongkonger Selbstbewusstsein zu erdrosseln. Wenn wir aufgeben, werde es wie in Xinjiang, wo eine Million Uiguren inhaftiert sind, erklärte ein junger Aktivist.

2015 hatte ein kleiner dystopischer Episodenfilm großen Erfolg in den Kinos der Hafenstadt. „Ten Years“, auf Netflix abrufbar, schildert, was 2025 mit Hongkong passiert sein wird. Es gab Freiluftaufführungen. Das Werk wurde vom Hongkong Film Award zum besten Film des Jahres 2016 erklärt. Prompt wurde die Verleihungszeremonie nicht mehr wie die Jahre zuvor im staatlichen Fernsehen Chinas übertragen. Die Akteure des Filmes wurden von der Festlandpropaganda übel beschimpft. Sie haben bis heute Schwierigkeiten in ihrem Beruf, da Filmproduktionen in Hongkong eher nach Festlandchina ausgerichtet sind. Die großen Stars wie Jackie Chan, Liu Yifei und Tony Leung hingegen haben sich längst auf Pekings Seite geschlagen.

Gereon Sievernich war von 2001 bis 2018 Direktor des Martin Gropius Baus Berlin. China gehört zu seinen Fachgebieten. Derzeit ist er Kurator des Hauptstadtkulturfonds.

Gereon Sievernich

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