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Selbstmord auf Befehl. "Der Tod des Seneca" (1871): Gemälde von Manuel Dominguez Sánchez, zu sehen im Prado von Madrid.

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Brücken ins Jenseits: Das Leben gehört den Lebendigen

Entschieden diesseitig: Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur lehrt einen gelassenen Umgang mit dem Tod.

Jedes Mal, wenn Delphine Horvilleur von einer Beerdigung kommt, besucht sie ein Café oder ein Geschäft, bevor sie nach Hause zurückkehrt. Ein ungewöhnliches Ritual für eine Frau, die doch gewissermaßen professionell mit dem Tod verkehrt.

Delphine Horvilleur, 1974 in Nancy geboren, ist Rabbinerin in Paris und die Leitfigur der Liberalen jüdischen Bewegung Frankreichs. Beisetzungen gehören zu ihren religiösen Pflichten. Und doch hat sie das Bedürfnis, zwischen sich und ihrem Zuhause „eine symbolische Sicherheitsschleuse zu errichten“, wie sie schreibt. Ein Satz, der mehr über die jüdische Tradition aussagt, als er in seiner anschaulichen Schlichtheit vermuten lässt.

Horvilleur hat ein Buch geschrieben, das ob seines Reichtums an Kenntnissen und Geschichten, der Kühnheit seiner Gedankenarchitektur und der schönen Klarheit seiner Sprache wieder und wieder gelesen werden kann. Ihren unverwechselbaren Ton aus Gelehrsamkeit, brillanter Beweisführung und Zugriff auf die Gegenwart kennt man aus ihrem vorherigen Buch „Antisemitismus“, in dem die erklärte Feministin die Gemeinsamkeiten von Frauenhass und Antisemitismus betrachtete. Nichts Leichtes konnte in diesem Buch sein.

[Delphine Horvilleur: Mit den Toten leben. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Hanser Berlin 2022. 192 Seiten, 22 €.]

Das ist nun anders. In ihrem jüngsten Buch weist sie den Tod auf mitunter geradezu komische Weise in seine Schranken. Und dies nicht, indem sie die Tatsache der Sterblichkeit mit schalem Gerede vom Loslassenkönnen in das Format von Achtsamkeitsseminaren presst. Horvilleur tritt dem Tod nicht weniger wütend, nicht weniger verständnislos und nicht weniger furchtsam entgegen als andere Menschen. Sterben kann man nicht lernen, auch wenn Montaigne das anders sah.

Verdrängung statt Konfrontation

Das eigene Abschiedszeremoniell vorzubereiten, wie es eine alte Dame tat, der Horvilleur während ihrer Ausbildung zur Rabbinerin in New York Hebräisch-Unterricht gab, spricht eher für die Verdrängung des Todes als für eine Konfrontation mit ihm. Denn das eigene Ableben bedeutet, so Horvilleur, „zu akzeptieren, dass das Leben den Lebendigen gehört.“

Eine ihrer Aufgaben sieht sie darin, die Kluft zwischen den Lebenden und den Toten zu überbrücken. Sie tut dies in dem ihr eigenen Medium, der Sprache, oder besser: in den vielen Sprachen, in denen sie zu Hause ist. Geschult an den Exegeten geht sie den Wörtern auf den etymologischen Grund, taucht tief in die Überlieferung ein. In der Thora, schreibt Horvilleur, wurde der Tod als endgültig betrachtet, erst spätere Texte setzen sich mit der Vorstellung einer Auferstehung auseinander.

Mit dem Geschick einer geborenen Geschichtenerzählerin wirkt Horvilleur eine feine Textur, in der beide aufgehoben sind, die Lebenden und die Toten. In diesem Gewebe antworten die Stimmen aufeinander, entsteht eine Resonanz, kein Diesseits oder Jenseits. Im Schreiben wird sie zur Gastgeberin, an deren Tafel alle willkommen sind. Darin besteht das eigentliche Antidot gegen die Schrecken des Todes.

Unerreichbar für Trost

Doch wie erklärt man einem Jungen, der gerade seinen kleinen Bruder verloren hat, wo der Gefährte jetzt ist? Welche Worte bleiben übrig am Grab von Elsa Cayat, der Psychoanalytikerin und Autorin, die von islamistischen Attentätern beim Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ ermordet wurde? Wie kann sie, die , „Enkelin verstummter Überlebender“ einem längst erwachsenen Sohn Trost spenden, der am Grab seiner Mutter steht, die nach der Erfahrung der Lager unerreichbar war für ihn?

Von all diesen Menschen erzählt Delphine Horvilleur in diesem schmalen, dichten Buch. Sie tut es mit jener Diskretion, die wahrhaftige Empathie ausmacht.

Im Juli 2017 stand sie am Grab von Simone Veil und sprach zusammen mit einem Rabbiner das Kaddisch für die Politikerin, die für sie mehr als ein Vorbild war, „fast schon ein Fanal“. Veil hat ihr vermittelt, dass „wir nicht ‚nur’ sind, was uns widerfährt.“ So eröffnet dieses Buch auch einen Blick in das persönliche Pantheon einer charismatischen Erzählerin, die mit einem Trinkspruch endet: „LeH’ayim!“: Auf das Leben!

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