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Großstadtgefühle. Hamburg ist Ilgen-Nur zu klein geworden, jetzt zieht die 22-Jährige nach Berlin.

©  Constantin Timm

„Power Nap“ von Ilgen-Nur: Das lässigste Debüt des Jahres

Hits aus der Horizontalen: Ilgen-Nur schreibt ihre Songs im Bett – und braucht nur Sekunden für die Texte. Ein Treffen.

Am besten ist es, wenn sie sich keinen Wecker stellen muss. Ilgen-Nur liebt ihren Mittagschlaf. Hinlegen, nicht wissen, wann man eingeschlafen ist und wann man wieder aufwachen muss. Kurze Schläfchen fallen ihr allerdings schwer, gibt sie zu. Nach 20 Minuten schafft sie es nie aufzustehen.

Trotzdem passt der Albumtitel „Power Nap“ ziemlich gut zu der 22-jährigen Musikerin. Denn ihre Songs sind das Lässigste, was man in der letzten Zeit in der deutschen Indieszene gehört hat. Allerdings sagt Ilgen-Nur auch: „Wirklich, ich rege mich die ganze Zeit auf!“

Auf ihrem ersten Album kommt beides zusammen, da ist sie mal träumerisch, mal wütend. Entspannt und kraftvoll. Ihre samtige Stimme transportiert den Widerspruch. Verglichen wird sie mit Courtney Barnett. Wie die australische Singer-Songwriterin verpackt Ilgen-Nur ihre Alltagserlebnisse in unprätentiöse Indiemusik.

Verträumte Lieder wie „TV“ und „Soft Chair“ erinnern an melancholischen 80er-Rock à la The Smiths. In „You’re A Mess“ dagegen macht die Musikerin ihrem aufgestauten Ärger über eine schmerzhafte Beziehung Luft.

An diesem Nachmittag in Kreuzberg wirkt die Musikerin gelöst. Zuvor war sie auf einem Lunchevent mit Janelle Monáe, R’n’B-Star aus den USA, danach hat sie einige Interviews gegeben. Ein bisschen Rock-Star-Attitüde darf es schon sein: „Jetzt bin ich langsam wieder nüchtern“, sagt sie zur Begrüßung.

Anekdoten und Anglizismen sprudeln aus ihr heraus, ihre Sprechstimme ist genauso tief und kraftvoll, wie ihre Singstimme. Im Viertelstundentakt dreht sie sich Zigaretten.

Aufgewachsen in einem Kaff

Aufgewachsen ist İlgen-Nur Boralı in Wendlingen am Neckar, einem „Kaff in der Nähe von Stuttgart.“ Zu Hause lief hauptsächlich türkische Musik. Sie komme aus einer typischen Arbeiterfamilie, erzählt sie, da wurde ihr die Plattenkollektion nicht in die Wiege gelegt.

„Ich habe Freunde, die schon mit acht Jahren Led Zeppelin gehört haben. Ich wusste erst mit 16 Jahren, wer Led Zeppelin überhaupt ist.“ Lücken bei den Klassikern habe sie immer noch, sagt sie achselzuckend. Dafür hat sie so viel Popkultur wie möglich aufgesaugt, als Kind saß sie den ganzen Tag vor dem Fernseher und schaute MTV und VIVA. Ihr Song „TV“ handelt von dieser Zeit.

Start mit einem Youtube-Kanal

Es folgte Klavierunterricht, später die E-Gitarre und „Made Of Bricks“ von Kate Nash. Fasziniert von der Erzählweise der britischen Musikerin beginnt sie mit elf Jahren und kleinem Englischwortschatz ihre eigenen Songs zu schreiben. Wenig später hat sie einen YouTube-Kanal mit 150 Followern, auf dem sie Coversongs hochlädt. Für ein Praktikum zieht sie nach Hamburg und beschließt einfach dort zu bleiben und ihr Studium abzubrechen.

Dann überwindet sie sich und veröffentlicht ihren eigenen Song „Cool“: „I just wanna be cool, but I feel like a fool“, heißt es im Refrain. Einen Tag später wird sie vom Leipziger Kassettenlabel Sunny Tapes angeschrieben. Sie sucht sich Bandmitglieder, probt zweimal und nimmt ihre erste EP auf.

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Kurt Vile, Homeshake oder Angel Olsen: Wenn Ilgen-Nur von ihren musikalischen Vorbildern redet, erzählt sie, wie sie Alben so „richtig hoch- und runterarbeitet“. Gerade hat sie die Biografie von Marina Abramović gelesen und das Internet nach jedem Interview und allen Performances der Künstlerin durchsucht. Immer noch verliert sie sich stundenlang in ihrer Musikrecherche.

Orientiert hat sie sich schon immer an Musikerinnen wie Courtney Love, Kathleen Hanna oder auch Lizzo, die sich von gesellschaftlichen Erwartungen lossagen. „Das ist einfach Punk, wenn es Künstlerinnen wie Lizzo gibt, die auf die Bühne gehen und sagen: Ja, ich sehe halt nicht aus wie Rihanna und das ist übelst geil.“ Rihanna sei natürlich auch übelst geil, schiebt sie nach, „No hate!“

„Jetzt greift mich das nicht mehr an.“

In „Power Nap“ stellt die Musikerin fest, dass sie nichts mehr schockiert. „Nothing suprises me“, singt sie und sagt: „Es ist viel Scheiße passiert, aber jetzt greift mich das nicht mehr an.“ Sexismus und andere diskriminierende Strukturen führen bei ihr zu keiner Schockstarre mehr. Im Gegenteil.

Sie ist darauf vorbereitet, hat sich mit Gleichgesinnten solidarisiert und kann sich den schmerzhaften Erfahrungen kraftvoll entgegensetzen. Diese Einstellung ist es, die Ilgen-Nur so punkig macht. Und das auf ihre eigene entspannte und natürliche Art.

Es überrascht sie zum Beispiel nicht mehr, wenn in einem Festival-Line-Up nur zwei weibliche Bands auftauchen. Oder wenn sie im Backstagebereich für die Freundin des Drummers gehalten wird, obwohl sie fünf Minuten zuvor noch auf der Bühne stand. Frauen in der Musik, besonders queere Frauen und Women of Color, müssten zehnmal so hart arbeiten, um eine gewisse Glaubwürdigkeit zu bekommen, sagt sie: „2019 sind Leute immer noch entsetzt, wenn du nicht lächelst auf der Bühne.“

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Im Musikvideo des Songs „Easy Way Out“ brettert Ilgen-Nur im blauen Mustang durch einen düsteren Wald und sammelt Freunde und Freundinnen von der Straße auf. „Ich wollte auf jeden Fall mal eine geile Karre fahren!“, grinst sie. Im Song geht es um die Flucht vor sich selbst, aber auch um Angst vor unangenehmen Situationen.

Doch im Video wirkt es nicht so, als müsste sie fliehen. Über dem Blümchenkleid trägt sie einen Mantel mit breiten Schulterpolstern: „I am stronger/ Than I might think“, singt sie und blickt herausfordernd in die Kamera.

Ilgen-Nur kann es kaum erwarten, das Album endlich „abzugeben“, wie sie es nennt: „Für mich ist es so emotional, ich will dass sich die Leute ihre eigenen Geschichten daraus machen.“ Der Sound von „Power Nap“ ist voller als der ihres ersten Mini-Albums, als Gitarristin strahlt sie mehr Selbstbewusstsein aus und auch mit ihrem Stimmumfang experimentiert sie mutiger.

[„Power Nap“ erscheint am 30.8. bei Power Nap Records. Konzert: 7. 12., Berghain Kantine]

Sie weiß mittlerweile, dass sie ziemlich cool ist und nimmt sich bewusst Raum für Verletzlichkeit, Wut und Apathie. Die Songs entstehen immer noch im Bett, für die Lyrics braucht sie oft nur 30 Sekunden. Zack, zack geht das und geändert wird dann nichts mehr.

Ilgen-Nur wurde in die Musikindustrie hineinkatapultiert. Auch wenn sie beteuert, dass sie noch oft unsicher ist, merkt man ihr das nicht an. Besonders wenn sie über ihre Musik spricht. Es ist noch unklar, in welche Richtung es weitergeht. Vielleicht wird es rockiger, vielleicht aber auch reduzierter. Gerade hat sie sich einen Synthesizer gekauft. „Ich kann ja machen, was ich will“, sagt sie.

Hamburg, die „Indie-City“, wird ihr zu klein. Der Umzug nach Berlin steht an, im Herbst geht sie auf große Tour, mit einigen Abstechern ins Ausland. Mal sehen, welche Musik sich danach in Berliner Betten schreiben lässt.

Alexandra Ketterer

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