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Paris, Schauplatz der allermeisten Patrick-Modiano-Romane

© AFP

"Unsichtbare Tinte" von Patrick Modiano: Das Glück des Vergessens

Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano begibt sich in seinem wunderbaren Roman "Unsichtbare Tinte" erneut auf die Suche nach der verlorenen Zeit.

"Es gibt Leerstellen in diesem Leben“, hebt der Ich-Erzähler in Patrick Modianos neuem Roman „Unsichtbare Tinte“ an, „Leerstellen, die man errät, sobald man das ,Dossier' aufschlägt: ein schlichtes Karteiblatt in einer himmelblauen Mappe, ausgebleicht mit der Zeit.“

Das Leben, um das es hier vordergründig geht, ist das der jungen Noelle Lefebvre, die mir nichts, dir nicht aus Paris verschwand. Ihr ist Modianos Erzähler Jean detektivisch auf der Spur: damals, mutmaßlich in den sechziger Jahren, da ist er noch ein sehr junger Mann. Und auch heute, ein halbes Jahrhundert später, in der Erzählgegenwart, als alter Mann, der womöglich ein Schriftsteller ist, womöglich das Alter Ego von Modiano.

Die Leerstellen in Noelle Lefebvres Leben werden von Jean mehr schlecht als recht gefüllt, zunächst, als er das Dossier von seinem Chef in die Hand bekommt, später in Abständen von Jahren, mal sind es zwei, mal zehn. Doch der Erzähler warnt, erklärt, dass diese Suche, dieses Füllen der Leerstellen nicht so viel Zeit in Anspruch genommen habe: "Was ist ein Tag in einem Zeitraum von dreißig Jahren?"

Es geht um die Leerstellen im Leben des Erzählers

Es gibt die Orte, an denen Lefebvre sich aufgehalten hat, Cafés, Bars, Clubs, einen Arbeitsplatz in einem Lederwarengeschäft, es gibt die Männer, die ihre Partner waren.

Und doch bleibt dieses Leben eine Leerstelle, so wie überhaupt dieser ganze Roman Modianos etwas von einer Leerstelle hat. Er ist ein einziges Schweben, getragen von einer klaren, präzisen und doch leicht verhangenen, zwischen Traum und Wirklichkeit mäandernden Prosa.

Letztendlich dreht "Unsichtbare Tinte" sich um die Leerstellen im Leben des Erzählers, um seine eigenen Gedächtnislücken, die nach und nach eine lockere Füllung bekommen.

Dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, das weiß, wer seine vielen schlanken und so wunderbaren Romane kennt, geht es seit seinem Debütroman "Place de L´Étoile" von 1968 um das Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen. Um das Vergessen, das mal ein totales ist, mal ein partielles, um die Erinnerung, die sich nur schwer herbeizwingen lässt, um die Zufälle, die die Erinnerung in Gang setzen.

Das Vergessen ermöglicht es auch Modiano als Schriftsteller, sich stets aufs Neue an die Arbeit zu setzen, eine Geschichte zu erzählen, die nie eine konzise ist, mit einer chronologisch nachvollziehbaren Dramaturgie, sondern die sich in Zeitkreisen bewegt, in der Erinnerungsschichten freigelegt werden oder sich überlagern - und die er in dieser Form schon viele, viele Male erzählt hat, ohne dass man genug davon bekäme.

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„Schlafende Erinnerungen“ heißt der Vorgängerroman von "Unsichtbare Tinte", der expliziter als andere seiner Romane autobiografisch grundiert ist. Darin spricht Modiano von einer „Zeit der Begegnungen“, die es für ihn gegeben habe, „in einer fernen Vergangenheit“. Um die geht es auch hier vorwiegend, um flüchtige Begegnungen von einst und jetzt.

Beispielsweise mit Jacques B., den der Erzähler aus seiner Jugendzeit in Annecy kennt und zehn Jahre nicht gesehen hat, „wie alle die Leute, die ich einst gekannt hatte in der Haute-Savoie.“

Jacques B. erzählt Jean von Sancho Lefebvre, der ihn an einen gewissen Serge Servoz denken lässt, ist er Sancho?, und dann ist er wieder bei Gérard Mourade, dem er zu Beginn seiner Suche begegnet ist.

Oder er sieht auf dem Schild einer Autowerkstatt (kein Modiano-Roman ohne Autowerkstatt!) den Namen R. Béavioure, der ihn darauf bringt, dass er einen anderen Namen immer falsch geschrieben und verstanden hat. Jean spricht mit R. Béavioure, der Noelle gekannt hat.

Namen von Menschen, Namen von Straßen, Orten: alle heil

Weiter bringt ihn das alles nicht, nicht seine Nachforschungen, nicht die vielen Namen von Menschen, von Straßen, Läden oder Orten, die Modiano immer wieder notiert, als würden sie die großartigsten Geheimnisse verbergen: Die Namen bleiben immer heil, heißt es einmal.

Ein Erfolg dieser Suche ist aber auch nicht zwingend notwendig. Denn die Zeit ist sowieso verloren, die Antworten auf bestimmte Fragen nicht erstrebenswert. Schon gar nicht in der Welt Modianos: „Ich frage mich: Braucht es wirklich eine Antwort? Ich fürchte, hat man einmal alle Antworten gefunden, dann wird das Leben hinter einem zuschnappen wie eine Falle, mit dem Schlüsselgeklirr von Gefängniszellen."

Patrick Modiano 2014 bei seiner Nobelpreisrede in Stockholm

© DPA

Deshalb verankert der 1945 geborene französische Schriftsteller seinen Roman dann und wann in der Gegenwart, macht er das Schreiben seines Buches zum Thema ("heute beginne ich die 63. Seite…, "Mir ist, als wäre alles schon geschrieben, mit magischer Tinte"), lässt er tief in die Grundfeste seiner Romanwelt blicken.

Trotzdem versucht Modiano sich schließlich wider besseres Wissen an einer Lösung: Er wechselt am Ende die Perspektive und erzählt aus jener der in Rom untergetauchten Noelle.

„Und über sich selbst, weiß man da mehr, wenn ich nach meinen eigenen Lügen und Auslassungen urteile oder nach meinen unbewussten Vergesslichkeiten?", fragt sich Jean kurz vor dem Perspektivwechsel. Die Antwort ist ein entschiedenes Nein, und das ist für Modiano-Connaisseure ein großes Glück: Fortsetzung folgt. Und dann wird es wieder so sein, als beginne Patrick Modiano zum allerersten Mal.

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