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Die chinesische Schriftstellerin Can Xue.

© privat

Can Xues Roman "Liebe im neuen Jahrtausend": Das eigene Double finden

Beschwingte Traumlogik: Can Xues fulminanter Roman „Liebe im neuen Jahrtausend“.

Als der Seifenfabrikarbeiter Wei Bo in einem Wellnesshotel die schöne Witwe Niu Cuilan kennenlernt und eine stürmische On-Off-Affäre beginnt, glaubt man sich in eine Telenovela chinesischer Spielart hinein katapultiert. Schnell kommen weitere Figuren hinzu, die alle irgendwie miteinander zusammenhängen; an Eifersuchtsdramen, Intrigen, tödlichen Krankheiten und Familiengeheimnissen mangelt es ebenfalls nicht

Allerdings nehmen auch die Merkwürdigkeiten prozentual zu: Zwischen den Blumenrabatten von Wei Bos Ex-Affäre lauert ein ominöser „Informant“, an verschiedenen Stellen taucht ein Kampferbaum mit Zauberkräften auf, ein Gefängnis hält die ganz Stadt in seinem Bannkreis, und unter einer Wohnanlage entfalten sich unterirdische Höhlensysteme, aus denen nachts die Geister der Toten aufsteigen.

Ehe man sich versieht, hat Can Xues fulminanter Roman „Liebe im neuen Jahrtausend“ (Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Matthes & Seitz, Berlin 2021.398 Seiten, 26 €.) uns in einen magisch-realistischen Kosmos voller Schlupflöcher und Falltüren hinein gezogen, der zwar auch eine Prise „Sex and the City“ enthält, darüber hinaus seinen Leser:innen jedoch auf beinahe jeder Seite neue Denk- und Wahrnehmungswelten eröffnet.

Nicht umsonst zählt die 1953 in der chinesischen Provinz Hunan geborene Autorin zur Crème de la Crème des chinesischen Avantgarde-Literaturbetriebs und gilt seit langem als aussichtsreiche Literaturnobelpreis-Kandidatin. Höchste Zeit, dass nun erstmals einer ihrer schillernden Romane ins Deutsch übersetzt wurde.

Unauflösliche Spannung

Wenig ist bei Can Xue, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Unter der sichtbaren Welt des Liebesreigens um Wei Bo tun sich schon bald surreale Traumlabyrinthe und groteske Abgründe auf, die anfangs zwar gehörig verwirren, zugleich aber auch einen unwiderstehlichen Sog ausüben.

Formal geht Xue ganz stringent vor: In elf Kapiteln beleuchtet sie jeweils eine Figur genauer, wobei Wei Bo als Protagonist schon bald aus dem Blick gerät. Vielmehr sind es die charismatischen Frauen in seinem Umfeld – die meisten von ihnen ehemalige Textilarbeiterinnen, die jetzt im Wellnesshotel sexuelle Dienstleistungen anbieten – die in „Liebe im neuen Jahrtausend“ im Zentrum stehen.

Die wahren Helden des Romans sind allerdings seine wiederkehrenden Themen und deren Variationen, die zusammen ein dunkelbuntes Universum erschaffen, das direkt dem kollektiven Unbewussten entsprungen sein könnte.

Das Verlieren und Wiederfinden der Heimat gehört zu den zentralen Motiven, das Hin- und Hergerissensein der Figuren zwischen Stadt und Land, der Suche nach den eigenen Wurzeln einerseits und dem Streben nach Fortschritt, Konsum und Selbstoptimierung andererseits.

Eine unauflösliche Spannung, die am laufenden Band Doppelungen, Spiegelungen und Wiedergänger gebiert. Ständig finden Xues Figuren heraus, dass sie einander von früher kennen, zusammen aufgewachsen, vielleicht sogar verwandt sind.

Der Besuch von Verstorbenen in allen möglichen Erscheinungsformen, Metamorphosen von Menschen zu Tieren und umgekehrt, die Dehnung und Streckung der Zeit, die eine Person in einem Moment jugendlich straff, im nächsten Moment als Greis erscheinen lässt, sind bei Xue an der Tagesordnung.

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Wer versucht, diesen Roman nach traditionellen westlichen Vorstellungen von Linearität und Kohärenz zu lesen, wird ihn vermutlich schnell frustriert zur Seite legen. Lässt man sich jedoch auf seine beschwingte Traumlogik ein, fühlt er sich plötzlich nicht mehr wie ein wirrer Drogentrip an, sondern letztendlich sogar ziemlich Zen.

Denn auch wenn sich Can Xues dadaistisch-daoistisches Universum nicht abschließend entschlüsseln lässt, hat man doch nach jeder Episode das beglückende Gefühl, alles sei an seinen Platz gefallen.

Vielleicht liegt es am subtil-absurden Humor, der das Buch durchzieht. Oder an seiner heiteren Philosophie, die jeden noch so banalen Dialog mit transzendentaler Bedeutung auflädt.

„Wie fühlte sich das an, zu glauben, man wäre sein eigenes Double?“, lautet eine der Rätselfragen, mit denen Xue en passant unser metaphysisches Denken stimuliert.

„Wie liebte ein Mann, der in einer Hobelmaschine umgekommen und wieder zum Leben erwacht war?“

Oder: „Bedeutet Geschichte nicht, die Dinge klarer zu sehen?“

Lange nachwirkender Roman

Nonchalant streckt sich Can Xues Roman „Liebe im neuen Jahrtausend“ sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit, ist Dystopie und Utopie zugleich. Elemente wie das Verschwinden der Heimat, die allgegenwärtige Überwachung, die Androhung von Strafe und Zwangsarbeit gemahnen an die traumatische Kindheit der Autorin (Xue wuchs während der berüchtigten Kulturrevolution auf, in extremer Armut, während ihre Eltern staatlichen Repressionen ausgesetzt waren), könnten mit ihren Science-Fiction-Anleihen aber auch auf eine dystopische Zukunft verweisen.

Utopische Momente hingegen blitzen in Can Xues Verständnis von Liebe, Körperlichkeit und dem Verbundensein aller Dinge auf: Ihre Frauenfiguren, egal ob sie nun Single, verwitwet oder verheiratet sind, leben ihre Sexualität und ihre Vorstellungen von Romantik ebenso selbstbewusst und pragmatisch aus wie die Männer, in einer entspannten Art der Polyamorie, ohne jemals dieses Label zu gebrauchen.

Es geht aber keineswegs nur um die romantische Liebe, wie der Klappentext suggeriert, sondern ebenso zentral um innige Freundschaften, die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, Schüler:innen und Lehrer:innen, Mensch und Natur.

Im letzten Drittel des Romans lässt sich Wei Bos Ehefrau Xiao Yuan als Erdkundelehrerin in dem kleinen Dorf Chao nieder, einem quasi utopischen Ort, an dem die Menschen im Einklang miteinander und mit ihrer Umwelt leben.

Durch ihre Sensibilität und ihre tiefe Verbundenheit zur Flora und Fauna findet Xiao Yuan – vielleicht die heimliche Hauptfigur – am ehesten etwas, das man „Heimat“ nennen könnte. „Hier herrschte eine konstante Ruhe“, konstatiert sie, „aber es war nicht die Ruhe eines stehenden Gewässers, sondern die von steten Wellen der Leidenschaft.“

Besser ließe sich auch das Grundrauschen dieses außergewöhnlichen, lange nachwirkenden Romans kaum beschreiben.

Anja Kümmel

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