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Taliban-Kämpfer in Kabul

© REUTERS

Verstummt, verfolgt, vertrieben: Das droht afghanischen Musikern durch die Taliban

Seit dem Sieg der Taliban herrscht wieder absolutes Musikverbot. Afghanische Musikschulen wurden geschlossen, Musiker sind auf internationale Hilfe angewiesen.

Der Autor war von 2008 bis 2020 Präsident des Goethe-Instituts. Das Institut in Kabul ist seit 2017 geschlossen.

Das Entsetzen über die Gräueltaten der radikalislamischen Taliban verstellt oft den Blick auf die konsequente Vernichtung der eigenständigen kulturellen Identität Afghanistans. Dabei geht es auch um das immaterielle Kulturerbe, insbesondere die Musik. Schon während der ersten Herrschaft der Taliban von 1991 bis 2001 wurden gezielt Musiker verfolgt, Musikinstrumente und Archive zerstört, Musizieren war gänzlich verboten. Viele namhafte afghanische Musiker flohen damals ins Ausland, vor allem nach Pakistan, wo die großen Meister, die Ustads, weiter traditionelle Musik lehrten und praktizierten, aber auch nach Europa und in die USA.

In Afghanistan konnte erst nach dem alliierten Militäreinsatz ab 2002 der Wiederaufbau der kulturellen Infrastruktur beginnen. 2010 entstand mit internationaler Hilfe die erste Musikschule (ANIM), an der sowohl klassische abendländische Musik als auch traditionelle Musik Afghanistans angeboten wurde, von Anfang an auch für Frauen und Mädchen.

Viele Musiker kehrten aus dem Exil zurück und brachten einen neuen Aufschwung. Der Lehrstuhl für Transcultural Music Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar ist 2011 eine Partnerschaft mit dem ANIM eingegangen. Diese künstlerische Zusammenarbeit führte zu Workshops mit traditioneller Musik aus Afghanistan an der Hochschule. Es gab Konzerte in Weimar, Leipzig, Erfurt, Köln, Berlin und in Kabul mit afghanischen und deutschen Musikern.

Jetzt herrscht seit der Machtübernahme durch die Taliban erneut komplette Stille. Die Musikschule musste geschlossen werden, Herstellung, Besitz und das Spielen von Musikinstrumenten aller Art wurden mit einem totalen Verbot belegt. Erneut müssen Musikerinnen und Musiker um ihr Leben und ihre Berufsausübung fürchten, sie verlassen – soweit möglich – das Land.

Das musikalische Erbe von Afghanistan wird digitalisiert

Die afghanische Musik hat nicht nur eine lange und vielfältige Tradition, sie ist für den Vielvölkerstaat mit seinen kulturellen, ethnischen und religiösen Prägungen ein Bindeglied. Auf Initiative des an der Weimarer Musikhochschule gegründeten Afghanistan Music Research Center wurde damit begonnen, das nationale Musikarchiv von Radio TV Afghanistan (RTA) zu sichern und zu erschließen. Es ist von unschätzbarem Wert für das Überleben der Musik Afghanistans, aber massiv durch die Taliban gefährdet. Es reicht zurück bis in die 1950er Jahre und enthält rund 30 000 Aufnahmen. Ein Großteil ist bereits digitalisiert und derzeit weltweit die wichtigste musikalische Quelle außerhalb Afghanistans.

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Das reichhaltige Video- und Musikmaterial erzählt so viel über die Bedeutung und die Gefährdung des afghanischen Musiklebens. Um dies zu vermitteln, wäre beispielsweise das Humboldt Forum geeignet: Es zeigt in seinen Ausstellungen Musikinstrumente, stellt bisher aber keinerlei aktuelle Bezüge her. Das soll sich ändern. Die Weimarer Hochschule und die Medienabteilung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum haben Kontakt ausgenommen. Es ist zu hoffen, dass die Öffentlichkeit im nächsten Jahr vertiefte Einblicke in die Musikkultur Afghanistans erhält.

Benefizkonzerte in Deutschland

„Musik für Afghanistan“: In den vergangenen Wochen wurden in deutschen Städten Benefizkonzerte organisiert, bei denen Instrumentalisten deutscher Musikhochschulen und Orchester sowie afghanische Meister spielen, um sich für bedrohte Künstlerinnen und Künstler einzusetzen. Hier trafen erstmals afghanische Meistermusiker mit Lehrenden deutscher Musikhochschulen zusammen

Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt werden nun Anstrengungen unternommen, Evakuierungslisten für die gefährdeten Musikerinnen und Musiker, aber auch für Wissenschaftler zusammenzustellen und ihre Ausreise zu ermöglichen. Der Direktor der Musikschule Afghanistan ANIM, Ahmad Sarmast, koordiniert die Evakuierung seiner Studierenden und der Dozenten aus dem Ausland.

Zur Zeit versucht Sarmast mit Mitteln internationaler Geldgeber eine Filiale von ANIM in Portugal zu errichten, um in Zusammenarbeit mit europäischen Musikhochschulen Masterklassen für Jugendliche von Geflüchteten einzurichten. Es ist eine verzweifelte Lage, der nur durch starke Solidarität etwas entgegengesetzt werden kann.

Klaus-Dieter Lehmann

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