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Kultur: Da hab’n wir den Salat, ich bin ein Literat

Komik als Haltung: zum Tod des Dichters und Zeichners Robert Gernhardt / Von Roger Willemsen

Als ich ein Jugendlicher war, hing im Bahnhof die Ecclesia-Bildpredigt mit dem Bildmotiv „Junge über Fußball gebeugt“. Daneben stand: „Der Reifeprozess schafft Probleme, der Fußball löst sie nicht.“ Meine Predigt zu jener Zeit hieß „Schnuffi“, reihte elf Jahre lang monatlich vier Bilder aus dem Leben eines Nilpferds zum Strip und löste die Probleme meines Reifeprozesses auf eigene Art, etwa durch Ironie. Tatsächlich begann mit diesen Geschichten, die Robert Gernhardt ab 1964 für die „Pardon“ zeichnete, eine Umbildung dessen, was mir komisch vorkam, Frauen und Männer, Dicke und Dünne, Trockene und Trinker, Schwätzer und Schweiger, menschenliebe Tiere und tierliebe Menschen. Es gab da einen neuen Einfallswinkel der Weltbetrachtung, und der war so ergiebig, dass ich Gernhardt schrieb, er sei dabei, mein Leben vor dem Ernst des Lebens zu retten. Ich ließ ihn wissen, dass er großartig sei, fein, zart, derb, komisch, alles zusammen, und dass mir der Name Gernhardt viel bedeute. Eine Woche später kam seine Antwort als Zeichnung mit Gruß von Schnuffi. Wie hätte ich ihm das je vergessen können?

Jahre später lernten wir uns wirklich kennen, und es gab zwischen Renaissancemalerei und Fußball nichts, das ihn nicht interessiert hätte. Selbst wenn wir irgendwo saßen, konnte es passieren, dass er gleichzeitig zeichnete, ein Detail, eine Situation. Der Dichter war ja eigentlich „staatlich ausgebildeter Kunstmaler“, sonst war nichts staatlich an ihm. Denn statt in den Schuldienst, entschloss er sich, in die „Pardon“ einzutreten.

In die Zeitschrift war er hineingeschliddert, wie schon Wilhelm Busch und Kurt Tucholsky ins komische Fach geschliddert waren. Busch hatte er während eines Kinderheimaufenthalts durch die Fromme Helene kennen gelernt und sich über die Reimerei gegen Bigotterie amüsiert; es folgten Chaplin-Filme, Laurel and Hardy, Cartoons von Loriot, Chaval, Bosc, die Funk-Sketche von Heinz Erhardt. Ihn erfasste ein Hunger nach Komik, und so begann er zu schreiben, ohne Verwertungsabsicht zunächst, allerdings schon ganz Gernhardt, wie man am Überraschungsmoment im folgenden Gedichtanfang erkennen kann: „Vater, lieber Vater mein, / willst du meine Mutter sein?“

Für den Geist, der so spross, war die Gründung der „Pardon“ im September 1962 ein Glücksfall. Im Oktober veröffentlichte Gernhardt dort seine erste Zeichnung, im Dezember seinen ersten satirischen Text. Doch wirkte er erst, als er in der „FAZ“ und der „Zeit“ publizierte. Der Rest ist Kulturgeschichte. Weil die berühmten Drei – Gernhardt, Waechter, Bernstein – 1983 vor der Frage standen, wie sie eine gemeinsame Ausstellung nennen sollten, entschieden sie sich für „Neue Frankfurter Schule“.

Gernhardt ist spät entdeckt worden als der, der er war. Manchmal amüsierte ihn die Flut der Preise, die jenseits der 55 über ihm zusammenschlug und die oft ein Werk meinte, das früh zu wachsen begonnen hatte. Es liegt eine amüsierte Milde über diesem Werk, die oft etwas Rührendes hat. So knollig die gezeichneten Figuren, so fein ist ihr Innenleben.

Gernhardt hat ganze Kontinente des Komischen urbar gemacht. Nicht die Welt der politischen, eher die der sittlichen Befreiung war die seine. Muntere Ehebrecher, raumgreifend agierende Neureiche und Funktionsdarsteller werden im früheren Werk ihrer belächelnswerten Existenz vergewissert. Später wird er leiser, dichtet in die Krankheit hinein und in die Krankheit nach der Krankheit und manifestiert Gefühle, die melancholischer in ihrer Bewegung sind und sich nicht mehr leicht mischen mit der Vitalität des In-der-Welt-Seins. Bei Gernhardt ist das Komische eine Haltung, die sich zum ganzen Leben verhält und deshalb auch nicht von Trauer, Begierde und anderen ernsten Dingen verdrängt werden kann.

Das Großherzige daran ist: Hat man die Welt einmal durch dieses Prisma gesehen, dann gibt sie immer wieder Komisches preis. Im Versuch einer literaturgeschichtlichen Einordnung des eigenen Arbeitens hat sich Gernhardt in jüngster Zeit auf Brechts Aussage berufen, zwei Linien gäbe es, denen die deutsche Dichtung der Neuzeit folge: die pontifikale und die profane. Kein komisches Gedicht sei absichtlich pontifikal. Also ist es profan, doch in der Pointe erschöpft es sich nicht, sondern wird reich erst durch die Schönheiten am Wegesrand. Es ist sozial und zielt in die Gemeinschaft der Lachenden.

Gernhardt spricht in diesem Zusammenhang einmal vom „Siebengestirn“ der deutschen Komik. „Heine, Busch, Morgenstern, Ringelnatz, Tucholsky, Brecht, Jandl“ und sagt: „Jeder aus diesem Siebengestirn ist ein Stern erster Ordnung und zugleich ein Original. Bei jedem ergäbe eine Spektralanalyse seiner Aura ganz andere U- und E-Wellen-Anteile, und doch bilden alle zusammen eine Plejade.“ Eine, die geeignet wäre, die Deutschen vom Makel der Humorlosigkeit zu befreien.

Wenn man ihn traf, war er immer gerade mitten im Werk, probierte ein Reimpaar aus, klopfte eine Zeitungsmeldung ab, kommentierte einen Kommentar. Seine gespitzten Lippen dazu, sein, ja, spitzbübisches Lächeln, wenn er die Reaktion auf die Pointe erwartet! Ist er einer, der uns anleitet, ein anderes Auge auf das Verhältnis zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Erregenden und dem Unbeteiligten, dem Bemühen und dem Scheitern zu werfen? Ist dieser „staatlich geprüfte Kunsterzieher mit Deutsch als Beifach“ tatsächlich „Erzieher“? Erzieht er die Kunst? Durch Kunst? Zur Kunst? Und wie macht er das mit Deutsch bloß als Beifach? Gernhardts Arbeit hat es seltener mit dem An-Sich der Welt als mit der Herstellung der Welt zu tun, mit den Formen, in die sie fällt und in die sie nicht richtig passt. Ausgerechnet der Mystiker Meister Eckhart hat einmal gesagt: „Dass Gott Gott heißt, das hat er von den Menschen.“ So interessiert sich Gernhardt weniger für das, was der Pfarrer beim Überreichen der Oblate spricht: „Hoc est corpus“ (Dies ist der Leib), als dafür, was in den hinteren Bänken ankommt: „Hokuspokus“.

In der faszinierenden Welt des alltagssprachlichen Meinens legt die Sprache nicht nur das Verhältnis zur Sache fest, sondern auch das des Sprechers zu sich selbst. Gibt es einen Unfall im Kernkraftwerk, titelt „Bild“: „Der Fluch von Tschernobyl“ und „Die Zeit“: „Die Büchsen der Atom-Pandora“. Ist Formel-Eins-Wochenende in Monaco, überfliegt die RTL-Reporterin die Villen im Helikopter und hechelt: „So wohnen die Stars, die Schönen, die Reichen.“ Die „FAS“ dagegen druckt eine Luftaufnahme und titelt: „Die Topographie des Glamours“. Gernhardt weiß, dass der Witz in der Haltung liegt, nicht in der Attitüde. Und Haltung ist es, die aus der Konfrontation der Attitüden den Witz gewinnt, zum Beispiel diesen: „Der Böll war als Typ wirklich Klasse. / Da stimmten Gesinnung und Kasse. / Er wär’ überhaupt erste Sahne, / wären da nicht die Romane.“

Wollte man seinen Blick mit einem Objektiv vergleichen, müsste man sagen: Er fokussiert den Sehstrahl so eng, dass er das Banale im Erhabenen entdeckt: „Ich weiß nicht, was ich bin. / Ich schreibe das gleich hin. / Da hab’n wir den Salat: / Ich bin ein Literat.“ Oder aber er öffnet das Objektiv so weit, dass er durch die Koexistenz des Erhabenen mit dem Banalen beide verändert. Etwa in seiner Zeichnung zum „Faust“, wo der große Grübler anhebt: „Habe nun ach...“, und ein kahlköpfiges Männchen ergänzt: „Ich hab auch mal studiert, Mathe.“ Cineasten sagen, die Tragödie sei das Leben in der Nahaufnahme, die Komödie das in der Totale. Gernhardt bietet eine Variante: das Komische als das Leben in der Halbtotalen.

Mitte der Achtziger ist Gernhardt seriöser geworden, das Komische fermentierte, das Lachen reichte tiefer, sättigte sich an Existenziellem. Aber auch in den Zustand, ein Klassiker zu sein, ist Gernhardt bloß hineingeschliddert. Seit er es ist, liegt ein anderes Glück in der Ruhe der Produktion, und manchmal sind es gerade die Scheidebilder, die Reisebilder, die der Ruhe, der Wehmut, auch dem Glück im Abschied reifen Ausdruck geben. Gernhardts Person aber und sein Kritzeln, sie waren ganz unklassisch, nämlich unmittelbar, mit Wärme und einem im Filigranen operierenden Witz. Er hat Dinge erfahrbar gemacht, die ohne ihn wohl immer noch unsichtbar wären. Gestern ist er mit 68 Jahren gestorben. Ohne ihn ist es weniger schön hier.

Roger Willemsen, Jahrgang 1955, lebt als Publizist in Hamburg. Im Frankfurter S. Fischer Verlag erschien von ihm zuletzt die Reportage „Afghanische Reise“.

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