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Wegweiser. Olivia Gräser im Bühnenbild von Merle Vierck. Foto: Imago

© imago/DRAMA-Berlin.de

Kultur: Da geht’s nach unten

Prekariatshorror: Marike Moiteaux inszeniert „Schutt“ in der DT-Box.

Michael trägt eine ziemlich singuläre Erfahrung mit sich herum. Als er 16 Jahre alt war, musste er seinem „Dad“ dabei zusehen, wie der sich an einer aufwendigen Kruzifix-Konstruktion, Marke Eigenbau, mit großer Liebe zum biblischen Detail selbst kreuzigte. Im heimischen Wohnzimmer – und mit einem ausgeprägten Sinn für zünftige Marathon-Performances.

Man sollte eigentlich nicht glauben, dass da in puncto Horrorerfahrungen noch irgendjemand konkurrenzfähig wäre. Doch weit gefehlt! Nach Michael tritt seine Schwester Michelle ins Rampenlicht und schildert mit überaus plastischem Erzähltalent, wie ihre Mutter im sechsten Schwangerschaftsmonat qualvoll an einem quer in ihrem Schlund feststeckenden Hühnerknochen erstickte. Und wie sie selbst, Michelle, sich anschließend durch die verschiedenen Verwesungsstadien der mütterlichen Leiche hindurch langsam ans Licht der Welt mampfte und robbte. Oder war es vielleicht gar nicht das Geflügelbein, das Mom seinerzeit so jäh dahinraffte? Sondern nur die gähnende Langeweile beim nächtlichen Fernsehen? Gut möglich: Schließlich lief im TV gerade „eine Kultursendung“, weiß Michelle zu berichten.

„Schutt“ hat sich die junge Regisseurin Marike Moiteaux in der Box des Deutschen Theaters vorgenommen, das einstige Debütstück des mittlerweile weltweit gefeierten Autors Dennis Kelly. Tief steigt der Brite darin in düsterste Prekariatsabgründe hinab: Von Kidnapping über Pädophilie bis zum Beinahe-Tod eines Kindes in einem Müllcontainer und einem geradezu Bilderbuch-freudianischen Ersatzfamilienspiel wird nichts ausgelassen in diesem geschwisterlichen Horror-Memoryspiel.

Um allerdings den Milieukitsch zu umgehen, der ja meist wie ein Damoklesschwert über den künstlerischen Versuchen schwebt, solche ernsten Themenfelder zu bearbeiten, lässt Kelly das Sujet stilsicher ins Surreale abdriften: Auf ihre düstere Kindheit zurückblickend, wetteifern die Geschwister quasi kompensatorisch in der Erfindung eigentümlicher Schreckensszenarien, die kunstvoll zwischen Kinder-Comic und Hardcore-Schocker oszillieren. Die väterliche Kreuzigungsszene vom Beginn ist dabei durchaus leitmotivisch zu verstehen. Mythisch-religiöse Überbauten sind in Kellys „Schutt“ genauso Programm wie die Freude an der Beschreibung besonders ekliger Details.

Was aber anfangen mit solch einem Zweier-Stück, bei dem der größte Horror, nun ja, ganz augenscheinlich im Kopf entsteht? Marike Moiteaux, die bisher als Regieassistentin am Deutschen Theater gearbeitet hat, entscheidet sich für das Nächstliegende: Sie überlässt das Feld ganz ihren beiden Schauspielern Olivia Gräser und Thorsten Hierse. Die hüpfen im Laufe des zuschauerfreundlichen Siebzigminüters zwar gelegentlich aus dem Fototapeten-Wohnwagen heraus oder spazieren über den Laufsteg im Hinweispfeil-Design, den Bühnenbildnerin Merle Vierck als Szenario in die Box des Deutschen Theaters gebaut hat. Und sie schlüpfen auch mal in ein recht imposantes Ganzkörper-Geburtstagstortenkostüm oder unter eine Affenmaske (Kostüme: Karin Rosemann). Aber im Wesentlichen transportieren sie eben weitgehend ablenkungsfrei den besagten Kopffilm-Horror über die Rampe. Das Ergebnis ist ein grundsolider Abend, der allerdings auch keine nennenswerten Rückstände hinterlässt. Christine Wahl

Wieder am 9. Februar, 19 Uhr und am 22. Februar, 19.30 Uhr

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