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Constanza Macras: Im Zauberwald

Bisher hat sie sich vor allem für die Probleme der Metropolen interessiert. Jetzt geht Constanza Macras mit ihrer neuen Tanzperformance erstmals in die Natur - und zwar in Wales.

Das ist wirklich eine Überraschung: Die Berliner Choreografin Constanza Macras, berühmt für ihre Aufführungen über Stadtneurotiker, Problemkids und sonstige Zumutungen westlicher Metropolen, erarbeitet ihr neuestes Stück in und mit der Natur. In einem versteckten Wald im Norden von Wales inszeniert sie Menschen, Bäume, Sagen, Wasserfälle und Burgruinen zu einem Theaterspaziergang zwischen Tag und Traum. Da wächst zusammen, was nicht zusammengehört, Puck und Punks, Schumann und Schlümpfe, graue Vorzeit und schrille Gegenwart, Wirtschaftskrise und Waldgeruch – das alles amalgamiert beim Wandern und Wundern zu einer abendlichen Begegnung der mindestens dritten Art. Schon der Titel „Branches: The Nature of Crisis“ ist doppeldeutig, denn „Branches“ meint hier nicht etwa die Zweige, die einem während der Aufführung Gesicht und Arme streifen, sondern bezieht sich auf die „Vier Zweige des Mabinogion“, einer Sammlung walisisch-keltischer Mythologien.

Diese vier Heldensagen, teils aus dem Mittelalter, teils noch weit älter, sind archaisch und verwirrend. Sie verhandeln Liebe und Ehre, Verrat und Mord auf höchst komplexe Art, verlieren sich in Zeit und Raum und schlagen immer wieder neue Haken in der Logik und Abfolge des Geschehens (man kann sich richtig vorstellen, wie jeder Reisebarde, der sie vortrug, sie weiterspann und ausschmückte, um seinen Aufenthalt auf der Burg zu verlängern). Alle vier Geschichten kommen im Stück vor, allerdings in komprimierter Form und auf verschiedene Weise dargeboten, sei’s als Storytelling, als Parodie eines Theaterworkshops oder musikalisch oder tänzerisch assoziierend. Es sind herrliche, wenn auch kaum verständliche Erzählungen, in denen die Frauen klug und gewitzt sind und die Männer tumb und gewalttätig, in denen acht Jahre wie nichts vergehen und zwei Tage eine Ewigkeit sein können.

Macras kontrastiert die verzweigten Geschichten mit einer modernen walisischen Mythologie, die jede Samstagnacht in Cardiff zu erleben ist: „Hen Parties“ („Hennenpartys“), bei denen sich krass gestylte junge Frauen vor der Hochzeit mit ihren Freundinnen bis kurz vors Koma saufen – exzessiv weibliches Äquivalent zum eher trüben Junggesellenabend (Stag Party). Und so torkeln denn die Party Animals im Glitzer- oder Leopardenlook unablässig durch den Wald, kreischen, prügeln, fallen in den Bach, verlieren Schuhe und Nerven oder rutschen erschöpft einen Hügel hinunter. Der dritte Erzählstrang ist die Geschichte des schottischen Nationalökonomen und Glücksritters John Law, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich das Papiergeld einführte und später durch rücksichtslose Spekulation mit Aktien seiner Mississippi-Compagnie das Land an den Rand des Staatsbankrotts brachte. Dies ist eine wahre Begebenheit, aber aus aktueller Perspektive hat sie durchaus das Zeug zur Mythologie.

Fast drei Stunden dauert die Theaterpromenade, während der Wald immer dunkler und unheimlicher wird, mal hält man vor einer Lichtung, wo es zugeht wie im „Sommernachtstraum“, wenn die Liebenden voreinander fliehen und seltsame Gestalten aus Baumgipfeln grüßen, mal ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf der eine Rockband spielt, oder man steht zwischen Bäumen und lauscht einer Zaubermusik von wer weiß woher. Es wird je länger, je magischer, und wenn einem plötzlich Jogger entgegenkommen, Herrchen mit Hund oder umschlungene Paare, ist man sofort bereit, sie für einen Teil der Inszenierung zu halten. Sind sie aber nicht, sondern einfach nur Parkbesucher bei ihrer Abendroutine. Die Prozession hat zwölf Stationen wie der Kreuzweg, von „Ich grolle nicht“, am Wasserfall gesungen, mit einer scheuen Nixe als Zuhörerin, bis zur einsamen Eiche auf der Wiese, die im Licht erstrahlt und vielleicht in eine bessere Zukunft weist. Es ist ein suggestiver Theaterabend, dem man unweigerlich verfällt, staunend und fragend und zunehmend erschöpft. Der Aufstieg zu den Mauern des Ewloe Castle gibt einem den Rest mit seinen steilen Stufen in der Dunkelheit – und doch hypnotisiert der Wirbel aus Leibern, Lichtern und Lügen.

Was für die Zuschauer anstrengend ist, ist für die Darsteller eine echte Herausforderung. Sie stürzen von einem Schauplatz zum nächsten, dabei Kostüm, Rolle und Stimmung wechselnd, sie stehen knietief im Wasser, suhlen im Matsch, preschen über Felsen, Brücken und Geländer. Diese Vorstellung beeindruckt nicht nur mit ihren atmosphärischen Bildern, den Kunstinstallationen aus Zweigen, Flaschen, Wind und Klang, den rasanten Tanzszenen auf abschüssig durchfurchten Pfaden, dem Mut und der Hingabe des formidablen Ensembles und Constanza Macras’ Vision, die durch all das atmet – sondern ebenso als logistisches Meisterwerk.

Allein das Licht in den Wald zu bringen, wo es naturgemäß keinen Strom gibt, muss eine Herkulesaufgabe gewesen sein – und wie stimmungsvoll hat Sergio Pessanah sie gelöst! Da hängen Hochzeitskleider in den Bäumen und werden zu Lampen, gibt es Lichterketten in den Ästen oder Lichtpunkte auf den Waldwegen, und wenn gar nichts mehr geht, dann tauchen plötzlich ganz viele Taschenlampen auf. Auch das Soundsystem für die Live-Auftritte der Band ist erstaunlich gut, und die elf Performer und vier Musiker sind ohnehin nicht genug zu loben. Sie sind teils aus Wales, teils aus Macras’ Berliner Gruppe Dorky Park und im Laufe der Proben zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden.

„Wales ist unsere Bühne“, sagt John McGrath, Intendant des National Theatre Wales, das „Branches“ produziert und etwa „Coriolanus“ in einem alten Flugzeughangar zeigt oder Aischylos’ „Perser“ in einem früheren Trainingszentrum der Britischen Armee. Jede dieser „Site Specific Productions“ wird nicht über die Köpfe der Leute vor Ort hinweg, sondern mit ihnen zusammen erarbeitet. Und Constanza Macras? Die hat Blut geleckt und möchte unbedingt 2013 eine deutsche Version der Aufführung, vielleicht mit Grimm’schen Märchen, in Berlin herausbringen. Wald gibt’s dort ja genug.

Renate Klett

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