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Der Schriftsteller Juan S. Guse, 30, gewann 2012 den Berliner Open Mike.

© Jörg Steinmetz/S. Fischer Verlag

Computerspiele-Roman „Miami Punk“: Ästhetisch ballern

Wortgewaltig und klug: Open-Mike-Gewinner Juan S. Guse führt in seinem Roman „Miami Punk“ durch die absurde Welt der Computerspiele.

Sie waren mal groß, ganz groß. Damals, als das Spiel „Counter Strike 1. 6.“ die Avantgarde der gerade aufblühenden Gaming-Industrie war. Doch dann kam 2012 die Nachfolgerversion „Counter Strike: Global Offensive“ (kurz CS: GO). Nun pilgert der resignierte Rest der CS-1.6-Szene nach Miami zu einem allerletzten Turnier ihres lange so lebensausfüllenden Spiels. Derweil wollen viele Bürgerinnen und Bürger die US-Küstenstadt am liebsten verlassen. Die Fluten des Nordatlantischen Ozeans sind von einem Tag auf den anderen verschwunden, und Miami befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise.

In Juan S. Guses Roman „Miami Punk“ flüchtet sich, wer kann: in Computerspiele, Routinen, Spiritualität, Wissenschaft, Romane, sinnlose Arbeit. Während zum Beispiel die Gamedesignerin Robin ihre Zeit beim biochemischen Konzernriesen Nowak einfach so absitzt, recherchiert ihre Freundin Daria die sonderbaren Vorkommnisse in der Stadt nach dem Rückgang des Meeres für die Behörde 55. Robins Cousin Lint schleicht sich jeden Abend zu einem Kongress, der aus militanten und esoterischen Arbeitsgruppen besteht. Seine Schwester Elsa wiederum bringt mit ihrem Ringerverein einen Alligator nach dem anderen zur Strecke. Und über die Entwicklung der Stadt kursieren unzählige Theorien.

Schon in der Erzählung „Pelusa“, mit der er 2012 den Berliner Open-Mike gewann, skizzierte Guse eine Welt zwischen Zivilisationsangst und fantastischer Apokalypsenstimmung. In seinem 2015 veröffentlichten Debütroman „Lärm und Wälder“ entwickelte er die Kurzgeschichte über das Leben in einer Gated Community in Argentinien weiter. „Miami Punk“ merkt man an, dass Guse nach dem Schreibstudium in Hildesheim im Fach Soziologie an der Universität Hannover promovierte und Seminare über „die Soziologie des Videospiels“ leitete. Seine Wortwucht und erzählerische Lässigkeit verschmelzen hier mit soziologischen Theorien und zahlreichen Verweisen auf zeitgenössische Autoren und Autorinnen. Dazu wird gezockt.

Erzählerische Lässigkeit trifft auf soziologische Theorien

MMORPG, FPS-Games, NPC, NES, FAMAS, CTs und RPG-Mechanismen. Guse kennt alle Abkürzungen. Dem Online-Taktik-Shooter „Counter Strike“ widmet er seitenlange Spielverläufe, technische Implikationen, Querverweise auf wissenschaftliche Spieltheorien und Diskurse der Online-Gamer-Community. Akribisch beschreibt er die Vor- und Nachteile unterschiedlicher CS-Grafikkarten und lässt seine Figuren über den unverhohlenen Sexismus der Szene diskutieren.

Die Thematik ist so unterhaltend aufgearbeitet und gut recherchiert, dass nicht nur Gamer ohne Probleme mitkommen und man was verpasst, wenn man die Spielverläufe überblättert. Mit „Intellektualität u. theoretischer Rigorosität“ wird „elegant“ und „ästhetisch“ geballert. Um das Googeln von Abkürzungen kommt man als „Newbie“ allerdings nicht herum.

Die Welt von „Miami Punk“ ist brutal. Triebtäter werden mit Baseballschlägern niedergestreckt, Häuser brennen en masse, Auto-Karambolagen stehen auf der Tagesordnung. Doch die Spektakel und Katastrophen wühlen nur noch die Kongressteilnehmer auf. Ihr Kongress erinnert an ein Offline-Reddit-Forum: ein Ort für anarchische Diskussion, Austausch und Verschwörungstheorien, in dem ohne Unterlass um Aufmerksamkeit und Deutungshoheit gerangelt wird.

Guse scheißt auf den durchschnittlichen Leser

Guse gelingt es, seinem Roman einen eigenen Gaming-Charakter zu geben. Kapitel mit kurz dargereichten Informationen gehen den dazugehörigen Zusammenhängen um Hunderte Seiten voraus. Man rätselt zusammen mit der Behörde 55 und den Speakern des Kongresses. Realitäten, Fiktion und Gerüchte verschwimmen. Guse malt jede Perspektive glaubwürdig aus, lässt jedoch manches Rätsel ungelöst. So hält sich die Spannung locker auf 635 Seiten. „Miami Punk“ geht weit über eine schlichte Dystopie hinaus. „Fuck the average reader“, scheint sich Guse gedacht zu haben, nach dem Motto von David Simon, dem Autor der Erfolgsserie „The Wire“. Über viele Kapitel hinweg ist man orientierungslos und mit überreizten Schachtelsätzen und Spielpartien konfrontiert.

„Nach all der quantifizierbaren Zielstrebigkeit, mit der ich mich für Turniere und Ligen vorbereitet hatte, fing ich an, wenn ich abends aus dem Institut zurück in meine Wohnung kam, Open-World-Games zu spielen. Aber nicht um irgendetwas Aufregendes zu erleben, sondern um darin Urlaub zu machen“, sagt einer der Gamer am Ende eines Turniertages. Mit „Miami Punk“ hat Juan S. Guse seine eigene Open World geschaffen. Auch darin lässt es sich vorzüglich Urlaub machen.

Alexandra Ketterer

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