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Kämpferin Katja (Marie Tragousti) schwankt zwischen Wut und Hilflosigkeit.

© Dejavu Film

Coming-of-Age-Drama "Nackte Tiere": Ein letzter langer Winter in der Provinz

Fünf Jugendliche kämpfen mit- und füreinander. Melanie Waeldes Abschlussfilm "Nackte Tiere" ist ein bemerkenswertes Debüt.

Von Andreas Busche

Katjas Körper ist mit Blutergüssen und Schrammen übersät, ihre Hand steckt meist in einer Bandage. Die Schulärztin gibt ihr einmal eine Broschüre über häusliche Gewalt, aber Katja wohnt nicht mehr bei den Eltern. Sie sind weg, vielleicht gestorben. Warum sich die 18-Jährige als Einzelkämpferin durchs Leben schlägt, bleibt in Melanie Waeldes Debüt „Nackte Tiere“ unausgesprochen. „Vermisst du sie manchmal?“, will ihr bester Freund Benni von Katja wissen. Die Antwort ist kurz und ausweichend.

Der einzige sichtbare Ausdruck von Emotionen sind die blauen Flecken auf Katjas Haut. Ihr Karatepartner Sascha verpasst sie ihr regelmäßig beim Training, manchmal fangen die beiden auch aus Spaß oder Langeweile an zu raufen – unter Freunden. Danach sitzen sie blutig und keuchend auf der Motorhaube seines Autos.

Es ist der letzte Winter vor dem Abitur, im trüben Licht sieht die deutsche Provinz, in der die Jugendlichen aufwachsen, noch deprimierender aus, als sie ohnehin ist. Katja erträgt die Monotonie nicht mehr, sie will weg, notfalls auch zur Bundeswehr. Eine fixe Idee, aber zumindest irgendein Ziel. Das hat sie ihren Freunden voraus.

Eine Schmerzensfrau wie Marie Tragousti hat das deutsche Kino seit Lana Coopers ungestümen Auftritt in Jakob Lass’ Debütfilm „Love Steaks“ nicht gesehen. Katja bewegt sich wie ein Elektron um ihre Freunde: Sie scheint sich immer gleichzeitig an zwei Orten zu befinden und ist doch nie greifbar. Ihre freiwerdende Energie hält die Gruppe zusammen, bringt diese aber auch wiederholt, wie bei einer Kettenreaktion, an den Rand des Zerfalls.

Katjas rohe Energie ist kaum zu kontrollieren

Sascha (Sammy Scheuritzel) ist gerade Zuhause rausgeflogen, weil er seinen Stiefvater geschlagen hat. Die Mutter von Laila (Luna Schaller) wiederum, für Katja eine Art Ersatzmutter, schlägt ihre Tochter. „Warum machst du nichts?“, fragt Katja einmal Schöller (Paul Michael Stiehler), „seid ihr nicht zusammen?“

Das Sorgenkind der Gruppe ist jedoch der labile Benni (Michelangelo Fortuzzi). Er lebt allein, seine Wohnung dient den Freunden als Rückzugsort, wenn wieder mal jemand ein Bett zum Übernachten braucht. Hier hocken sie aufeinander – oder schieben Schichten, wenn sie Benni nicht allein lassen wollen.

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„Nackte Tiere“ lebt von der rohen Energie Katjas, die die Kamera kaum kontrollieren kann. Tragousti stürmt durch den Film, ihr dabei zuzusehen ist anstrengend. Ständig wechselt Waelde die Register, von zärtlichen Momenten der Freundschaft ansatzlos in den Selbstverteidigungsmodus. Das 4:3-Bildformat schafft eine erdrückende Intimität und verstärkt gleichzeitig das Gefühl provinzieller Enge.

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Noch unbeschriebene Gesichter in den Hauptrollen

Das Ziel ihrer Rebellion bleibt vage, auch innerhalb der Gruppe machen sich Rivalitäten bemerkbar. Auffällig ist die Abwesenheit von Erwachsenen. Die einzigen Vertrauenspersonen sind die Lehrerin Merz (Xenia Tiling) und ihr Karatetrainer Mirko (Florian Schmidtke), aber auch sie haben allenfalls moderierenden Einfluss. Katja übernimmt die Aufpasserrolle für ihre Freunde, sie fühlt sich für alle verantwortlich, überspielt aber nur ihre eigene Hilflosigkeit und Wut.

Tragousti, Scheuritzel, Fortuzzi und Stiehler sind im Kino noch unbeschriebene Gesichter, Schaller hatte ihre erste größere Rolle in der Netflix-Serie „How To Sell Drugs Online (Fast)“. Diese Unbekümmertheit tut „Nackte Tiere“ gut, der im neuen Berlinale-Wettbewerb „Encounters“ lief; sie hilft auch über kleinere dramaturgische Schwächen hinweg.

Waelde, die das Buch für ihren dffb-Abschlussfilm selbst geschrieben hat, entwickelt die Dringlichkeit der Coming-of-Age-Geschichte aus den Figuren heraus, ihre Darstellerinnen füllen die Leerstellen des Drehbuchs mit Leben. Sie lassen Kameramann Fion Mutert so nah an sich heran, dass es wehtut.
In den Kinos fsk und Wolf

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