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Orangenträume: Eine Szene aus dem Buch.

© Panini

Graphic Novel: Zwischen Kommunismus und Katholizismus

Eine Kindheit in Polen: Die Erzählung „Marzi“ erinnert an den Bestseller „Persepolis“ - mit einem wesentlichen Unterschied.

Der französische Zeichner Sylvain Savoia hat zusammen mit seiner in Polen aufgewachsenen Lebensgefährtin Marzena Sowa, Jahrgang 1979, die in Frankreich in zwei Sammelbänden publizierte Erzählung „Marzi“ über ihre Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang vorgelegt. Nun ist der erste Sammelband auf Deutsch bei Panini erschienen. Um die Äußerlichkeiten gleich abzuhandeln: Das schön aufgemachte Hardcover sieht gut aus und fühlt sich gut an – die relativ zahlreichen Letteringfehler nerven ein bisschen.

Nichtsdestoweniger: Das Album, das die Jahre 1984 bis 1987 umfasst, ist eine feinfühlig, persönlich und detailreich erzählte Einführung in jenes Polen zwischen Kommunismus und Katholizismus, das auf Sowas im Westen aufgewachsene Altergenossen eine ähnlich exotische Faszination ausüben dürfte wie Oliver Twists London.

Eine Kindheit unter einem fragwürdigen politischen System - der Vergleich zu Marjane Satrapis „Persepolis“ liegt nahe. Der wesentliche Unterschied liegt wohl im Grad der Reflektion. In „Marzi“ suchen die Autoren dezidiert die ungefiltert kindliche Perspektive. Rodeln auf einem Strohsack, Lockenwickler vor der Erstkommunion, das kurze Leben des Meerschweinchens und im Winter in einen See fallen: Allgemeingültige Kindheitserlebnisse werden in kurzen Episoden gleichrangig neben dem spezifischeren Schlangestehen nach Zucker, der Bevorzugung von Funktionärskindern, Tschernobyl und dem sich langsam regenden Widerstand behandelt.

Als Kind ärgert man sich eben nicht über „die da oben“; fehlende Möglichkeiten politischer Partizipation fechten einen nicht weiter an. Selbst Armut empfindet die Hauptfigur, Marzena Sowas Alter Ego, nur relativ: Unter den ebenso wenig begüterten Nachbarskindern wird sie kaum spürbar; wenn aber die Freundin, deren Eltern Zugang zu frischem Fleisch haben, nicht nur eine Barbie besitzt, sondern auch von den Lehrern bevorzugt behandelt wird, wird sie zum Leid. Die Probleme des Systems manifestieren sich in sehr konkreten Erlebnissen: In der Angst um den streikenden Vater. In der Scham, wenn man mit riesigen Ladungen Klopapier nach Hause gehen muss. Und in der wirklich tiefen Verzweiflung, wenn man als Kind nach stundenlangem Anstehen von Erwachsenen einfach weggeschoben und so um die letzten Orangen gebracht wurde.

Die Schwierigkeiten, die das Leben im kommunistischen Polen mit sich brachte, werden genau so erzählt wie das Leid unter den Vorwürfen der wenig liebevollen Mutter: von Grund auf emotional. Und so werden auch sie zu universellen Erfahrungen.

Kindliche Fantasie: Die Ich-Erzählerin träumt sich in die große Politik.

© Panini

Wie fühlt es sich an, in einem realsozialistischen Staat aufgewachsen zu sein? Mit ausdrucksvollen Zeichnungen und gutem Timing implantiert das Album auch dem eingefleischtesten Wessi eine sacht nostalgische Erinnerung an den entschwundenen Ostblock.

Marzena Sowa/Sylvain Savoia: Marzi 1984-1987, Panini, 224 Seiten, 24,95 Euro

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