zum Hauptinhalt
Eine Seite aus „Antananarivo“.

© Splitter

Road-Comic „Antananarivo“: Ein Leben voll liebenswerter Lügen

Rentner als Comic-Helden haben derzeit Konjunktur. Im Road-Comic „Antananarivo“ macht sich ein Senior auf die Suche nach der Wahrheit und durchlebt eine unerwartete Entwicklung.

Geboren auf Madagaskar! Gekämpft in Indochina! Fremdenlegionär! Für den pensionierten Notar Amédée - Hauptfigur des Comic-Albums „Antananarivo“ von Mark Eacersall und Sylvain Vallée (Übersetzung Tanja Krämling, Splitter, 136 S., 29,80 €) sind die abendlichen Treffen mit seinem Freund und Nachbarn Jo das Größte: Dessen rumselige Erzählungen von seinen Abenteuern in aller Welt regen den eher häuslichen Amédée, der seine Heimatregion kaum je verlassen hat, zum Träumen an.

Amédées Frau sieht es hingegen gar nicht gerne, wenn ihr Mann angetrunken nach Hause kommt und immerzu von Jos Abenteuern schwärmt. Zumal Amédée ein rechter Hypochonder ist, der hinter jedem Atemzug einen Herzfehler vermutet.

Umso härter trifft Amédée, dass sein vitaler Freund unvermittelt stirbt. Er hinterlässt ein Haus und die komplette Sammlung einer bekannten Abenteuercomicserie. Amédée fühlt sich verantwortlich und versucht, dessen Erben ausfindig zu machen.

Raus aus der Wohlfühlzone

Dafür verlässt er sogar seine Wohlfühlzone: Amédée lässt alle Ängste hinter sich und verlässt seine Region in der französischen Provinz. Für Jo würde er bis nach Madagaskar reisen! Der Trip in seinem alten Coupé wird jedoch zum Abenteuer, bei dem Amédée sein bisheriges Bild von Jo revidieren muss...

Ziemlich beste Freunde: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Splitter

Seit einigen Jahren erscheinen immer mehr Comics, die sich mit den Befindlichkeiten „alter Knacker“ auseinandersetzen. Ob die gleichnamige französische Comicreihe von Wilfrid Lupano und Paul Cauuet (bisher sieben Bände, Splitter Verlag), die Graphic Novel „Kopf in den Wolken“ von Paco Roca (Reprodukt Verlag), bei der es um Demenz geht, oder die jetzt mit einem zweiten Band fortgesetzte Geschichte „Niemals“ von Bruno Duhamel (Avant Verlag), in dem eine alte Dame ihr angestammtes, wenn auch absturzgefährdetes Zuhause nicht verlassen will.

Es liegt wohl weniger an der Überalterung der Gesellschaft, dass die Hochbetagten ihren Platz im Comicsegment erobern, als an ihrem Potenzial für gute Geschichten. Denn alte Menschen haben bereits den Großteil des Lebens hinter sich und dadurch meist ausgeprägte Charaktere. In Verbindung mit Humor kann das auch für Lesende ein Gewinn sein.

Wie ein gealterter Indiana Jones

Der Road-Comic „Antananarivo“ (benannt nach der Haupststadt Madagaskars) ist wieder so ein kleines narratives Wunderwerk, in dem „gereifte“ Charaktere durch die Handlung führen und eine unerwartete Entwicklung durchleben.

Schon die beiden Hauptfiguren Amédée und Jo könnten gegensätzlicher nicht sein: Der eine zurückhaltend und behäbig, der andere ein begnadeter Geschichtenerzähler, drahtig und mit der Aura eines gealterten Indiana Jones. Die Reise wird den ersten Eindruck jedoch deutlich korrigieren.

Eine weitere Seite aus „Antananarivo“.

© Splitter

Der 1972 geborene Comiczeichner Sylvain Vallée, Franzose wie der Szenarist, findet für seine Protagonisten und auch die wichtigen Nebenfiguren die passende Optik, zeichnet sie leicht karikiert und fängt dabei auch ihre innere Verfassung pointiert und einfühlsam ein.

Wer war sein Freund wirklich?

Eacersalls Szenario ist voller kleiner Finten und Wendungen und wartet mit zahlreichen Überraschungen auf, die schmunzeln lassen. Denn Amédée ist auf seiner Reise nie allein (mehr sei hier nicht verraten) und erfährt in deren Verlauf so manche unangenehme Wahrheit, ihn selbst und Jo betreffend.

Er irrt von Behörde zu Behörde, um Akteneinsicht in Jos Leben zu bekommen, spielt Detektiv, setzt dabei die eigene Gesundheit aufs Spiel und erfährt so nach und nach, wer Jo wirklich war.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Splitter

Sylvain Vallée hat als Zeichner u.a. von aufwändigen historischen Thrillern („Es war einmal in Frankreich“, „Katanga“) und Agentenserien („XIII Mystery“) Erfahrungen gesammelt und mittlerweile einen eigenständigen Stil gefunden, der Realismus und karikierende Elemente (insbesondere in der Zeichnung der Figuren) vereint. Dem One-Shot „Antananarivo“ kommt diese Erfahrung zugute.

Seine mit sanfter Ironie unterlegten Zeichnungen ziehen den Leser durch das stetige, subtile Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Imagination in ihren Bann, oft kommen sie über mehrere Seiten ohne Worte aus.

Die Charaktere sind Vallée dabei besonders wichtig, sie erreichen trotz der mehr oder weniger dezenten Überzeichnung eine erstaunliche Lebensnähe. Der anfangs zaghafte Amédée gewinnt im Laufe der Geschichte an Selbstbewusstsein und wird so in gewisser Weise zum Abenteurer, der er immer sein wollte. Zudem wird ganz beiläufig einem berühmten belgischen Comicklassiker gehuldigt.

Marc Eacersall und Sylvain Vallée gelingt das Kunststück, dass einem ihre Figuren mitsamt ihrer liebenswerten Lebenslügen ans Herz wachsen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false