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„Über Leben“ von Maki Shimizu: Leben und Sterben in Berlin

Maki Shimizu erzählt in ihrem Berlin-Comic „Über Leben“ von den Schattenseiten des Lebens – und dem Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

400 Seiten stark ist das neue Buch „Über Leben“ (Jaja-Verlag, 27 €) der Berliner Comiczeichnerin Maki Shimizu, bei dem auf den ersten Blick das Schwarz des Seitenschnitts auffällt, ein bisschen wie ein Trauerrand. Düsteres füllt auch den meisten Raum der in der Berliner Comicszene angesiedelten Geschichte rund um eine Ateliergemeinschaft, die von ihrem Vermieter rausgeekelt wird.

Durch Rückblenden und zahlreiche Nebenfiguren wird ein Panorama von Gewalt, Missbrauch und Tod hinter Mietshauskulissen aufgemacht, von fremdbestimmtem Handeln und Oberflächlichkeit, aber auch von Trost und dem Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Vor allem geht es in „Über Leben“ um die Katze Adagio und Maki-Maus, zwei Figuren, die Maki Shimizu bereits in ihrer dreibändigen Comic-Kurzgeschichtensammlung „Adagio“ eingeführt hat. Die Autorin, die 2018 die Gewinnerin des Berliner Comicstipendiums war, bezeichnet die beiden als ihr Alter Ego.

Adagio hat heilende Hände, geht verschiedenen Jobs nach, der Zeichen- und der Heilkunst, genau wie Shimizu selbst. Besonders viel gibt es von Maki-Maus und ihrer schwierigen Geschichte zu erfahren, nachdem sie zum Geist geworden ist, dessen Abbildung auch auf dem Buchrücken schwebt. Und Rückseiten, die im Schatten liegenden, verborgenen, unbenennbaren, sind in „Über Leben“ wichtig.

Schwierigkeiten im Miteinander sind ein Leitthema des Buches, es geht um menschliche Widersprüchlichkeiten, die oftmals mehr spürbar als begreifbar sind. Hintergründe für das Tun der Akteure werden nicht groß konkretisiert. Warum schaffen die Atelierleute, die Mieter, nicht, alle zusammenzuhalten? Wer bemerkt den sexuellen Missbrauch, wer erfährt von der gewaltvollen Kindheit?

Krimi-Elemente, Philosophie, Geblödel

Vieles läuft hier einfach nebeneinander her, in dem Mietshaus, das einer der zentralen Handlungsorte ist, wie auch in der Ateliergemeinschaft, deren Mitglieder die Maus in ihrer Mitte vor allem als oft verkaterte, Müsli liebende Kollegin kennen.

Trauerarbeit: Eine Schlüsselszene „Über Leben“.

© Jaja

Besser vertraut mit deren Leben und Sterben als die Atelierkolleg*innen werden im Laufe der Lektüre die Leser*innen, denen sich etliche verborgene Dimensionen von Makis Lebensgeschichte auftun. So wird das Publikum zu Maus-Mitwissenden, auch wenn es um die Aufklärung ihres Todes geht.

Krimi-Elemente, Philosophie, auch Geblödel … das Buch wird seinem Titel gerecht, Shimizu erzählt über das Leben. Neben den Figuren aus ihrer (Tier-) Welt zeigt sie als Einsprengsel teils verstörende Zeugnisse anonymer Menschenleben auf den schwarzen Seiten zwischen den Kapiteln. Dabei bleibt oft unklar, woher die Texte und Kinderbilder kommen.

Eine weitere Szene aus „Über Leben“.

© Jaja

Maki Shimizu hat viel in dieses Buch hineingepackt. Vielleicht etwas zu viel? Ein bisschen zu unverbunden die Figuren und Elemente der Geschichte? Der Plot ist recht lose und reich an Überraschungen. Er rankt um die Atelier-Mietsituation und ihre absurde Zuspitzung und funktioniert über viele Rückblenden – das Ende führt zurück an den Anfang. Und man begreift die erste Szene neu.

Farben kommt hier eine besondere Bedeutung zu, Hell und Dunkel werden auch sinnbildhaft verwendet. Die auf dem Titelbild schwarze Adagio war am Anfang der Geschichte noch ganz weiß.

Liebevoller Blick auf Berlin

Mit der Ordnung der Panels geht Shimizu freier um als in ihren früheren Büchern, und auch ihr rauer Bleistift- und Kohlestrichstrich hat an Expressivität gewonnen. So bringt sie souverän immer größere Ungeheuerlichkeiten aufs Papier, die nehmen ungeahnte Formen an, in einer Steigerung bis zum Schluss.

Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Jaja

Therapeutisches und Zerstörerisches liegen dicht beieinander in „Über Leben“. Fragen aufwerfen, nachdenklich stimmen, menschliche Erfahrungen und gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, das alles tut dieses Buch. Doch auch feinen Humor bringt es und einen liebevollen Blick auf die Stadt und ihre Bewohner*innen.

Zudem porträtiert Shimizu ein Stück Berliner Comicszene: Die Comicbibliothek „Renate“ ist Schauplatz einiger Szenen, die Adagio als Zuhörerin zeigen und ihrer Gesprächspartnerin ein Denkmal setzen.

[Weitere aktuelle Comics aus und über Berlin: Wie ein Architekt die Historie des Berliner Schlosses als Comic erzählt, Ein bildgewaltiger Traum von einer besseren Zukunft, Wenn Klassiker zum Comic werden.]

Spannend bis ans Ende ist Shimizus Gewebe um alltägliche Wesen, die mit der Unbill des Lebens konfrontiert werden und die sich entwickeln, zu dem was sie sind, ob sie nun ihren Weg – oder wenigstens Abschnitte davon – selbst zu gestalten vermögen, oder auch nicht.

„Über Leben“ ist mehr als eine Lektüre, es ist eine Erfahrung. Sie endet allerdings ohne Auflösung, die es ja viel zu oft im echten Leben auch nicht gibt. Aber sie ist lohnenswert.

Lea Hübner

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