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Klima der Angst: Eine Seite aus dem Buch.

© Cross Cult

Kampf um Gleichberechtigung: Comic-Pionier Howard Cruse mit 75 gestorben

Howard Cruses Buch „Stuck Rubber Baby“ ist ein Meilenstein der queeren Literatur. Aus Anlass von Cruses Tod hier noch einmal ein Text zu seiner Graphic Novel.

Am Dienstag ist Cruse, der als Herausgeber der Anthologie „Gay Comix“ auch anderen queeren Comicschaffenden den Weg ebnete, mit 75 Jahren gestorben, wie mehrere US-Fachmedien in der Nacht zu Mittwoch berichteten. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass erneut eine Würdigung seines wohl wichtigsten Werkes, die 2011 im Tagesspiegel veröffentlicht wurde.

In seiner Graphic Novel „Stuck Rubber Baby“ verwob Howard Cruse seine Erfahrungen des Coming-outs mit der Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre zu einem lebendigen Stück Zeitgeschichte. Beim ersten Erscheinen dieser Besprechung war „Stuck Rubber Baby“ gerade bei Cross Cult auf Deutsch neu veröffentlicht worden, inzwischen ist der Band dort allerdings verlagsvergriffen.

Der erfolgreichste amerikanische Roman des 19. Jahrhunderts war „Onkel Toms Hütte“ (1851). Zu seiner Zeit als sentimental abgetan, wurde Harriet Beecher Stowes Werk dennoch zu einem bewegenden Manifest gegen die Sklaverei und zum einem prominenten Vorläufer der Protestliteratur. Mehr als 100 Jahre später ist die Sklaverei zwar auf dem Papier abgeschafft, doch in den US-Südstaaten ist die Segregation noch immer Fakt.

Die Graphic Novel „Stuck Rubber Baby“, die zuerst 1995 erschien und 2011 bei Cross Cult in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt wurde, nimmt sich der Probleme der Rassentrennung in Retrospektive an. Dafür verwendet der Autor und Zeichner Howard Cruse eine ähnliche Technik wie Stowe vor ihm: Der Leser wird eingeladen, die Zeit durch die Augen des Helden noch einmal zu durchleben.

Amerika im Umbruch: Eine Szene aus dem Buch.
Amerika im Umbruch: Eine Szene aus dem Buch.

© Cross Cult

Cruse hat sich speziell für das Jahr 1963 entschieden, in dem John F. Kennedy erschossen wurde und Martin Luther King beim Marsch auf Washington seine berühmte „I have a dream“-Rede gehalten hat. Ort der Handlung ist Cruses Heimatstadt Birmingham, ein Epizentrum der Protestbewegung, das der Autor für „Stuck Rubber Baby“ in Clayfield umgetauft hat.

[Einen Beitrag von Markus Pfalzgraf, dem Autor des Buches „Stripped – A Story of Gay Comics“, zu aktuellen Entwicklungen in der queeren Comicszene gibt es hier.]

Ähnlich verfährt  Cruse mit realen Ereignissen und Personen: Rosa Parks – sie löste durch ihre Weigerung, im Bus auf den für Schwarze vorgesehenen Plätzen zu sitzen, den „Montgomery Bus Boykott“ aus – wird im Comic durch die Klavierspielern Mabel ersetzt. Pfarrer Pepper, das Alter Ego von Martin Luther King, gönnt sich eine Zigarette, um mit dem ständigen Druck fertig zu werden, ein Vorbild zu sein. Trotz dieser alternativen Historie erzeugt Cruse ein erstaunlich authentisches Zeitbild.

Heterosexualität als Fassade 

Verstärkt wird das Erleben dieser Ereignisse durch die parallel laufende Coming-out-Geschichte des Protagonisten Toland Polk. Gleich zu Beginn der Graphic Novel gesteht Ich-Erzähler Toland dem Leser, dass er schwul sei. Durch diese narrative Strategie werden all seine Versuche, Heterosexualität vorzuspielen, von Beginn an als bloße Fassade demaskiert.

Toland ist kein mutiger Held, der aus Überzeugung kämpft: Während seine Bekannten und Freunde mit Sitzstreiks und Friedensliedern gegen die Unterdrückung von Afroamerikanern und Schwulen aufbegehren, steht er unbeteiligt daneben. Im Laufe von „Stuck Rubber Baby“ schließt ihn die Gewalt immer mehr ein, bis er ihr nicht mehr entfliehen kann.

Überarbeitet: Das Cover der Neuauflage.
Überarbeitet: Das Cover der Neuauflage.

© Cross Cult

Der innere Konflikt des Helden wirft die gleiche Frage auf, wie die politischen Konflikte der Sechzigerjahre: Warum soll gerade ich mich engagieren? Die Angst vor Repressionen lähmt den homosexuellen Helden genauso, wie den Großteil der weißen Bevölkerung. Er toleriert die Rassentrennung zwar nicht, würde aber dennoch nicht gegen den perfiden Status quo aufbegehren -  aus Angst, er könnte der Nächste sein.

Die Verhandlung der Streitthemen spielt sich zwar in Demonstrationen und Aufmärschen ab, doch entlädt sich die eigentliche Spannung auf der persönlichen Ebene, dringt in die häuslichen Wohnzimmer ein und erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl im eigenen Heim.

Mut zum Anderssein 

Während der Comic sehr dialogbasiert aufgebaut ist, lenkt Cruse das Auge des Lesers durch ein gut überschaubares Layout leicht über die Seiten. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, mit welchem Feingefühl und Maßarbeit Cruse vier Jahre lang an seinem Comic gearbeitet hat.

Neben den aufwendigen Kreuzschraffuren macht sich der Comic-Künstler eine Technik zu eigen, die man nur als „Punkten“ bezeichnen kann. Mit größter Akribie verleiht Cruse durch die gepunkteten Flächen jedem seiner Charaktere eine eigene Hautfarbe: vom weißem Weiß bis hin zu den verschiedensten Braun- und Schwarztönen.

So entstehen in einem Comic, der sich mit dem Mut zum Anderssein befasst, eine Vielzahl von Abstufungen, die eine simple Unterteilung in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, nicht mehr ermöglicht.

Cruse verbindet mit „Stuck Rubber Baby“ ein historisches Porträt der Protestbewegung mit dem persönlichen Konflikt von Toland übergangslos. Durch genaue Recherche des Materials, Interviews mit Zeitzeugen und aus eigenen Erfahrungen spiegelt er ein glaubhaftes Stück Amerika wider, das im Jahr 1963 einen seiner größten historischen Wendepunkte erlebte, ohne dabei didaktisch zu wirken.

Die zeitlose Graphic Novel beweist nicht nur, wie leicht es ist, einen Fremden zum Sündenbock zu machen, sondern gibt auch Mut, sich gegen Ungerechtigkeit gewaltlos zur Wehr zu setzen.

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