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Eine Szene aus „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“.

© Reprodukt-Verlag

„Juliette“ und die Kunst der Comic-Übersetzung: Die feine Balance von Bildern und Worten

Wie überträgt man ein französisches Familiendrama ins Deutsche? Ein Gespräch mit Comicübersetzerin Lilian Pithan über „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“.

Von Birte Förster

Eigentlich sollte es eine harmonische Familienfeier werden: Zusammen mit Mann, Eltern und Schwiegereltern feiert Marylou den Geburtstag ihres Sohnes, zu Gast ist auch ihre Schwester Juliette aus Paris. In Marylous Haus in einer französischen Kleinstadt treffen sie alle zusammen. Es gibt ein großes Essen, die Gespräche kommen in Gang. Aber Chaos und Konflikte bestimmen immer mehr das Geschehen. Schließlich verschwindet auch noch die demente Oma.

Die turbulente Szene ist einer der Höhepunkte in Camille Jourdys Graphic Novel „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“ und steht exemplarisch für den gesellschaftlichen Mikrokosmos einer Kleinstadt. Mit viel Witz und Sinn für gutes Timing lässt die französische Comickünstlerin darin Wünsche, Vorstellungen und Lebensalltag ihrer Figuren aufeinanderprallen.  

Eine Seite aus „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“.

© Reprodukt-Verlag

Das Geschehen nimmt immer mehr an Fahrt auf, alle reden durcheinander. Im Wechsel kommentieren die Gäste Juliettes Seelenzustand und das versalzene Kartoffelgratin. Mit Höflichkeiten umschiffen sie zunächst, worum es eigentlich geht: Dass das Gratin „voll eklig“ ist, wie es der jüngste Sohn schließlich ausspricht.   

Ich will, dass man den Eindruck hat, da sprechen Leute.

Lilian Pithan, Übersetzerin

Comicübersetzerin Lilian Pithan hat Jourdys Werk aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Längere Szenen wie diese, in denen der Witz Stück für Stück aufgebaut werde, gefallen ihr besonders, sagt Pithan. In der Übersetzung sei für sie das Entscheidende, dass die Gespräche lebendig und authentisch wirken. Daher probiert Pithan unterschiedliche Varianten aus, spricht die Dialoge laut vor, manche Szenen spielt sie regelrecht nach. „Ich will, dass man den Eindruck hat, da sprechen Leute“, sagt sie.

Lilian Pithan arbeitet unter anderem als Übersetzerin., Redakteurin und Moderatorin.

© Tobias Bohm, Literarisches Colloquium Berlin

Jeder Figur verlieh die Comicübersetzerin eine passende deutsche Stimme. „Die Mehrstimmigkeit ist in der Comicübersetzung das besonders Interessante“, sagt Pithan. In Jourdys Graphic Novel sei die Sprache der Figuren schlicht, umgangssprachlich, es handele sich um „Dialoge aus dem Alltag“. Eine entsprechende Umgangssprache, die auch die Gefühlswelten der Figuren aufgreift, entwickelte sie somit auch im Deutschen.

Aber anders als in Frankreich, wo solche Texte zum Teil mit Grammatik- und Rechtschreibfehlern sowie fehlender Interpunktion noch stärker reale Sprechsituationen abbilden, werde in Deutschland mehr Richtung Standardsprache lektoriert, erklärt Pithan und spricht daher von einer „künstlichen Mündlichkeit“. Das Ergebnis sei ein „Mittelweg zwischen authentischer Umgangssprache und Standardsprache“.

Panikattacken und ein Liebhaber im Gewächshaus

Im Gesprochenen spiegeln sich auch die liebenswürdigen, etwas schrulligen Charaktere mit all ihren Eigenheiten wider. Alle haben ihre eigene Lebenswirklichkeit, gleichzeitig sind sie Teil eines sozialen Gefüges. Juliette wird in der Familie als sensible und komplizierte Persönlichkeit wahrgenommen.

Bei ihrer Familie auf dem Land möchte sie eigentlich ein wenig zur Ruhe kommen, denn Panikattacken machen ihr das Leben schwer. Ihr Zustand hängt aber auch mit der unverarbeiteten Vergangenheit der Familie zusammen. Dass noch ungeklärte Konflikte bestehen, wird auch deutlich, wenn die inzwischen getrenntlebenden Eltern aufeinandertreffen.

Eine weitere Seite aus „Juliette – Gespenster kehren im Frühling zurück“.

© Reprodukt-Verlag

Juliettes ältere Schwester Marylou scheint dagegen mit Haus und Familie im Leben angekommen zu sein. An einer Stelle bezeichnet ihre Mutter sie als „stabil“ – im französischen Original „forte“. Mit der Übersetzung transportiert Pithan die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks und somit den besonderen Witz, der durch ein Missverständnis entsteht: Marylou versteht darin eine Anspielung auf ihre kräftige Statur, gemeint ist aber ihre innere Ausgeglichenheit.

Camille Jourdy: „Juliette: Gespenster kehren im Frühling zurück“, aus dem Französischen von Lilian Pithan, Handlettering von Michael Hau, Reprodukt, 240 Seiten, 29 Euro

© Reprodukt

Dabei ist sie in Wirklichkeit höchst unzufrieden – sowohl in ihrer Beziehung als auch beruflich. Davon, dass sie einen heimlichen Liebhaber hat, weiß nur ihre beste Freundin. Regelmäßig vergnügt sich Marylou im Gewächshaus ihres Gartens mit ihm. Verkleidet als Bär oder Gespenst pirscht er sich zumeist heran.

Die Graphic Novel hält so einige sehr komische und unterhaltsame Momente parat. Die Vielschichtigkeit entsteht aber dadurch, dass auch ernste Themen wie psychische Erkrankungen, Einsamkeit sowie zwischenmenschliche Konflikte zur Sprache kommen. In Jourdys farbenprächtigen und stimmungsvollen Aquarellbildern, die ein wenig kindlich-naiv anmuten und mit vielen liebevollen Details versehen sind, findet all das einen Ausdruck.  

Eine definitive Übersetzung gibt es nicht.

Lilian Pithan

Diese Bilder auch in Einklang mit einer deutschen Textversion zu bringen, darin besteht eine besondere Herausforderung des Comicübersetzens. „Man übersetzt nicht nur den Text.“ Das Bild sei immer der erste Ansatzpunkt, erklärt Pithan. Entscheidend sei, dass das Gefühl, das durch die Verzahnung von Bild und Text im Original ausgelöst werde, auch in der Übersetzung entstehe. „Das kann man mit Worten allein nicht schaffen.“

Das trifft auch auf jeden anderen Comic zu, den Pithan bisher übersetzt hat, wenn auch die Herausforderungen mit jedem Werk andere sind. Zuletzt erschien zudem ihre deutsche Übersetzung von Aude Picaults „Amalia“, einer Frau, die versucht Familienleben und stressigen Job zu vereinbaren, gleichzeitig zunehmend die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren bekommt.

Der Text sei ebenso umgangssprachlich wie „Juliette“, dazu kämen viele Anspielungen popkultureller Art, Produktbezeichnungen sowie Soundwords, für die sie ein deutsches Äquivalent finden musste.

Derzeit ist Lilian Pithan dabei, zwei weitere Größen der französischen Comicszene zu übersetzen: Im Frühjahr kommenden Jahres erscheint der zweite Teil von Luz` Comicadaption von „Vernon Subutex“. Bereits den ersten Teil übertrug sie ins Deutsche. Außerdem arbeitet die Comicübersetzerin an einer deutschen Version von Catherine Meurisses neuestem Band – einer Sammlung mit philosophischen Texten.

Immer wieder stellt Pithan bei ihrer Arbeit fest, dass es am Ende immer ein Abwägen ist, eine Entscheidung für oder gegen einen Ausdruck, die ein:e andere:r Comicübersetzer:in möglicherweise ganz anders getroffen hätte. Man schaffe eine Version, die den Inhalt aber auch den Tonfall sowie die Gefühlswelt des Originals transportiere, sagt Pithan. „Eine definitive Übersetzung gibt es nicht.“

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