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Reported Missing. Ein Panel aus der Comicreportage von Eleri Harris.

© Harris/The Nib

Journalisten mit dem Zeichenblock: Die Kunst der Reportage

Was kann Comic-Journalismus? Das ergründet jetzt eine Ausstellung in Berlin. Co-Kuratorin Lilian Pithan über die Möglichkeiten und Grenzen eines Genres.

Als die australische Journalistin Eleri Harris 2017 auf die Insel Tasmanien fährt, um über einen ungeklärten Mordfall zu berichten, hat sie nicht nur Notizbuch und Aufnahmegerät dabei, sondern auch einen Zeichenblock. Denn Harris ist eine von wenigen Journalisten in Australien, die Comicreportagen veröffentlichen.

Ihre siebenteilige Serie „Reported Missing“ beginnt mit ihrer Ankunft in der Hauptstadt Hobart, wo sie eine Zeugin interviewt: Sarah Bowles Mutter Susan Neill-Fraser wurde 2010 des Mordes an ihrem Ehemann beschuldigt und zu einer 23-jährigen Haftstrafe verurteilt. Das Problem: Die Leiche von Bob Chappell wurde nie gefunden, die Schuld Neill-Frasers nicht endgültig bewiesen.

Objektivität, Wahrheitstreue und Überprüfung der Quellen

Eleri Harris will die Story knapp acht Jahre später neu aufrollen. Sie recherchiert die Mordermittlungen, rekonstruiert den Ablauf des Gerichtsprozesses und führt Interviews mit Angehörigen. Anschließend macht sie aus ihrem Material einen Comic: Ab dem siebten Panel taucht sie selbst als Reporterin auf.

Eigene und fremde Aussagen werden farblich abgesetzt. Erinnerungen und Gefühle, die nicht bis ins Letzte überprüfbar sind, werden als solche kenntlich gemacht. Dass sie der Hauptfigur ihrer Reportage freundschaftlich verbunden ist, legt sie gleich zu Beginn offen.

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Harris befolgt damit alle Regeln des klassischen Journalismus, der auf Objektivität, Wahrheitstreue und genaueste Überprüfung der Quellen pocht. Mit „Reported Missing“ ist ihr ein Coup gelungen, der sie nicht nur in Australien, sondern weltweit zur Vorreiterin macht.

Denn auch wenn es die Disziplin des Comicjournalismus schon seit den 1990er Jahren gibt, hat sie sich in den klassischen Medien noch nicht etabliert.

Als Begründer gilt der amerikanisch-maltesische Zeichner Joe Sacco, der 1991-92 ausführliche Recherchereisen ins Westjordanland und in den Gazastreifen unternahm. Seine im Anschluss entstandene, lange Comicreportage „Palästina“ musste er jedoch in einem Indie-Comicverlag veröffentlichen, da sich die US-amerikanischen Medien für das ungewöhnliche Format nicht interessierten.

„Esst mehr Comics!“

Seither hat sich viel getan: Sacco ist in den Olymp der Zeichner aufgestiegen, seine Reportagen erscheinen weltweit in journalistischen Magazinen. Andere, wie die Russin Victoria Lomasko, haben sich einen Ruf als Chronisten der Gegenwart erarbeitet. So war sie 2012 bei den Anti-Putin-Protesten in Moskau vor Ort und zeichnete den Gerichtsprozess gegen Pussy Riot.

Ich-Erzählerin. Eine weitere Szene aus Eleri Harris’ Comicreportage.
Ich-Erzählerin. Eine weitere Szene aus Eleri Harris’ Comicreportage.

©  Harris / The Nib

Besonders im Internet entwickelt sich der Comicjournalismus rasant: Das US- Onlinemagazin The Nib veröffentlicht unter dem Motto „Esst mehr Comics!“ fast täglich neue Comicreportagen und Karikaturen. Dort ist auch 2017 Eleri Harris' Reportage erschienen.

Und der Schweizer Karikaturist Patrick Chappatte hat 2016 für die ehrenwerte „New York Times“ eine fünfteilige Reportage über Todeskandidaten in den USA gezeichnet. Chappatte führte die Recherchen gemeinsam mit der Journalistin Anne-Frédérique Widmann durch. Neben Interviews lässt er in seine Comics auch Zeichnungen der Insassen einfließen.

Immer wieder erscheinen Widmann und Chappatte selbst im Bild: Wie vielen Comicjournalisten ist es ihnen wichtig, die Recherchesituation offenzulegen. Denn auch sie müssen sich die Frage nach der Objektivität des Dargestellten gefallen lassen.

Suche nach komplexen Realitäten

Diese stellt sich im Medium Zeichnung jedoch anders: Es geht im Comic nicht darum, eine fotorealistische Abbildung der Wirklichkeit zu liefern, sondern das Geschehen in der Welt wahrheitsgemäß abzubilden. Auch Comicjournalisten sind der Information verpflichtet. Deren Verbindung mit der Kunst des Comics macht diese junge Disziplin zu etwas Einzigartigem.

Hat, so könnte man fragen, der Comicjournalismus überhaupt Grenzen? Geografische vielleicht nicht, aber doch praktische und formale. Zeichnen ist in den meisten Fällen ein langsameres Geschäft als Schreiben oder Fotografieren. Deshalb würde es die Nerven vieler Comicjournalisten sicherlich überstrapazieren, betraute man sie mit der tagesaktuellen Berichterstattung.

Was als Nachteil des Mediums ausgelegt werden könnte, wenden Comicjournalisten wie Patrick Chappatte ins Positive: Der längere künstlerische Entstehungsprozess erlaubt eine intensivere journalistische Recherche. Es wird nicht nach schnellen Antworten gesucht, sondern nach komplexen Realitäten.

Alphabet des Ankommens: Ein Blick in die Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“.
Alphabet des Ankommens: Ein Blick in die Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“.

© Lars von Törne

Die zweite Einschränkung gründet in der Ästhetik: Wenn Informationen in Comics verpackt werden, muss das auch kunstvoll sein. Die Form muss ebenso zur Geltung kommen wie der Inhalt. Wird ein Interview beispielsweise als bloße Abfolge von „talking heads“ gezeichnet, ließe sich der Vorteil der Comicform kaum begründen.

In diesem Fall muss der Künstler narrative oder grafische Kniffe einsetzen, indem er zum Beispiel die erzählte Handlung im Bild darstellt, wie es Eleri Harris in „Reported Missing“ tut. Sie hat in ihrer Reportage die perfekte Balance zwischen Kunst und Information gefunden und damit ihre Leserschaft überzeugt: 2018 wurde Harris’ Comic mit dem Ledger Award in Gold, dem wichtigsten australischen Comicpreis, ausgezeichnet.

Genauer Beobachter: Detail einer Reportage von Olivier Kugler in der Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“.
Genauer Beobachter: Detail einer Reportage von Olivier Kugler in der Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“.

© Lars von Törne

Lilian Pithan ist Journalistin und zusammen mit Nathalie Frank Kuratorin der Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“, die bis zum 25. August 23019 im Museum für Kommunikation Berlin (Leipziger Straße 16) zu sehen ist. Am 28. Mai um 18.30 Uhr diskutiert dort ein Podium von Fachleuten die Frage: „Was kann Comic-Journalismus?“ Es diskutieren Karoline Bofinger, Fotografin und Comicredakteurin bei „Le Monde diplomatique“, Augusto Paim, Journalist, Comicforscher und Doktorand an der Bauhaus-Universität mit Schwerpunkt Comicreportage, Beatrice Davies, Illustratorin und Comiczeichnerin, sowie Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne, Moderation: Nathalie Frank, Journalistin und zusammen mit Lilian Pithan Kuratorin der Ausstellung. Zuvor gibt es am selben Tag um 17.30 Uhr eine Kuratorinnenführung mit Lilian Pithan und Nathalie Frank.

Eröffnung der Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“ am 22. Mai 2019.
Eröffnung der Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit. Comic-Journalismus weltweit“ am 22. Mai 2019.

© Lars von Törne

Lilian Pithan leitet für den Deutschen Comicverein Comicjournalismus-Workshops. 2017 hat sie das erste größere Comicjournalismus-Projekt in Deutschland („Alphabet des Ankommens“) initiiert, bei dem 24 Journalisten und Zeichner aus zehn Ländern Comicreportagen über Migration erarbeitet haben. Sie ist außerdem Gründerin und Redakteurin des deutsch-arabischen Kulturmagazins „Fann“.

Lilian Pithan

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