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Entwicklungsroman: Eine Doppelseite aus "Küsse für Jet".

© Jaja

Genderidentität im Comic: Von der alltäglichen Suche nach sich selbst

Im Comic "Küsse für Jet" behandelt Joris Bas Backer das Thema Genderidentität auf eine Weise, die an Marjane Satrapi und Alison Bechdel erinnert.

Joris Bas Backer vermengt in "Küsse für Jet" gekonnt die Elemente eines klassischen Entwicklungsromans mit einer Geschichte über das wachsende Bewusstsein der Genderidentität. Während diese Themen im englischsprachigen Comic seit einigen Jahren immer präsenter werden, finden sie im deutschsprachigen Comic nahezu gar nicht statt - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Umso erfreulicher, dass in Backers Buch Jets Entwicklung so gekonnt eingefangen wird.

Wir befinden uns am Ende der 1990er Jahre: Grunge is in, Y2K steht vor der Tür und Jet wechselt aufs Internat. Von der besten, wenn auch vorlauten Freundin Sasha getrennt zu sein ist für Jet zwar schwierig. Aber viel schlimmer ist dieses seltsame Gefühl, dass mit dem eigenen Körper irgendetwas nicht stimmt. Zwischen aggressiven Mitschülern, Partys und dem ersten Kuss, dem ersten Sex versucht Jet den richtigen Weg für und zu sich zu finden.

Schüchtern, introvertiert und sensibel

Jet läuft hier komplett entgegen der stereotypen Vorstellung, dass queere Menschen stets extravagant auftreten und im Mittelpunkt stehen wollen. Queer ist nicht ständig quietschbunt, laut und eine Party-Parade. Wie die Komikerin Hannah Gadsby in ihrem Programm "Nanette" es so gut formulierte: "Where are the quiet queers supposed to go?"

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Schüchtern, introvertiert und sensibel versucht Jet mit der Unsicherheit alleine klarzukommen. Freundin Sasha bemerkt allerdings Jets inneren Konflikt und will helfen. Übereifrig outet sie Jet bei ihren Eltern, ohne es mit Jet vorher abzusprechen.

Eine brisante Szene nicht ohne Probleme, denn einerseits hilft Sasha Jet die ersten nötigen Schritte zu gehen, Termine bei Ärzten und Hilfsstellen zu machen. Andererseits ist ein Zwangsouting durch andere Personen eine sehr übergriffige, verletzende und emotional belastende Situation, gerade wenn man noch ganz am Anfang des Prozesses der Identitätsfindung steht.

Eine weitere Doppelseite aus "Küsse für Jet".

© Jaja

Aufgewachsen unter anderem in Den Haag, Bukarest und New York sammelte Joris Bas Backer selbst viele Erfahrungen unterschiedlicher, sich oft verändernder kultureller und sozialen Prägungen.

Geschrieben hat Backer "Küsse für Jet" (Jaja Verlag, 188 S., 20 €) weder in niederländischer noch in englischer sondern in deutscher Sprache. Laut eigener Aussage, da er auf diese Weise weniger emotional mit der erzählten Geschichte verbunden sei und so die Verarbeitung der eigenen, persönlichen Erinnerungen nicht so schwer fiele.

Emotionales Chaos mit wenigen Strichen vermittelt

Außerdem vermengt er die tatsächlichen Ereignisse seines Lebens mit fiktionalen Elementen. Diese Erzähltechnik der Autofiktion stellt die konstruktiven, diskursiven und medialen Aspekte biografischen Vermittelns in Bildern in den Vordergrund.

Dadurch ergibt sich eine breitere, allgemeinere Lesart der Geschichte, abseits vom biographischen, besonderen Einzelfall. Backer tritt damit in die Fußstapfen von Künstler*innen wie Marjane Satrapi und Alison Bechdel.

Visuell erinnert Backers Stil tatsächlich auch an Bechdel. Illustrativ, cartoonesk dabei auch detailliert und expressiv wenn nötig. Ganz der Prämisse "Show Don’t Tell" folgend, setzt Backer nicht auf ausschweifende innere Monologe oder lange Gespräche sondern auf die Kraft seiner Bilder.

Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Jaja

Dabei beweist er en passant, dass es für starke Emotionen keine hyperrealistischen Zeichnungen benötigt. In den kritischen Szenen schafft es Backer mit nur wenigen Strichen das emotionale Chaos der Hauptfigur zu vermitteln. Jets Überforderung und Rückzug, das Einwickeln in Decken, das Verstecken im Schrank funktionieren hier wunderbar ohne Text.

Weder tragisch noch naiv-positiv

Später, nach dem Zwangsouting durch Sasha, kreisen die Wortfetzen um Jet herum, bis Jet es nicht mehr aushält und sich weinend auf eine Wiese legt. Parallelisiert durch das stürmische, wolkenschwere Wetter erkennt man Jets inneres Chaos, das zunächst auch nicht aufgelöst wird. Weil es nicht einfach aufgelöst werden kann.

Das zeigt Backer in einer späteren Szene mit einem Arzt, der in einer Art persiflierenden Musical-Nummer Jet den Weg der standardisierten Gender-Transition vortanzt. Doch Jet reagiert verhalten und will sich nicht in dieses Muster pressen lassen.

Auch hier zeigt sich, wie treffend und wichtig der Comic ist. Weder ist es eine tragische noch eine naiv-positive Geschichte. Das Leben hat Ecken und Kanten und nicht alles verläuft immer eindeutig und einer geraden Linie folgend. Und nicht alle Identitätsfindungen verlaufen gleich und haben dasselbe Ziel. Das alles in einem Comic zu vermitteln ist die große Stärke von "Küsse für Jet".

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Unsere Autorin Lara Keilbart ist nicht nur Journalistin und Podcasterin, sondern seit 2019 Leiterin des Berliner Festivals ComicInvasion. Hier findet sich ein Podcast-Gespräch des Festivals, das sie mit Joris Bas Backer geführt hat. Und am Donnerstag, dem 18. Juni, liest Joris Bas Backer um 18 Uhr im Rahmen des Online-Programms #ComicSTREAMvasion aus "Küsse für Jet", ebenfalls moderiert von Lara Keilbart.

Lara Keilbart

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