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Vergiftete Welt: Eine Szene aus „Mutantenwelt“.

© Splitter

Endzeit-Comic „Mutantenwelt“: Wie Richard Corben die Apokalypse zum Leuchten brachte

Die Neuauflage von „Mutantenwelt“ des Comicpioniers Richard Corben (1940 – 2020) beeindruckt auch heute noch durch glaubwürdige Figuren und zeichnerische Finesse.

Diese Postapokalypse hat es in sich. In einer düsteren, zeitlich und örtlich nicht näher definierten Zukunft – einzig ist bekannt, dass der Menschheit einige Zeit zuvor ein „großer Fehler“ passiert ist – scheint die Erde nur noch aus Ruinen und Wildwuchs zu bestehen, der zumeist von früheren Kriegen verseucht ist.

Unter den überlebenden Kreaturen herrscht das Recht des Stärkeren und das Prinzip „Fressen oder gefressen werden“, bis hin zum Kannibalismus. Neben einzelnen Menschen und Tieren gibt es zahlreiche mutierte (Zwitter-) Wesen auf zwei Beinen, die an Hunde, Menschenaffen oder Zyklopen erinnern, wie auch wolfsähnliche Monster mit acht Beinen.

Der Mutant Dimento, dessen spitze Ohren Hinweise auf eine Mutation sind, wirkt zwar durch seinen muskulösen Körper wie ein ausgewachsener Mann, hat jedoch das naive Gemüt eines Kindes. Dimento wandert haltlos durch diese verseuchte Welt, immer auf der Suche nach Nahrung.

So gut wie jedes Wesen, dass er trifft, nutzt seine Gutherzigkeit aus und versucht ihn reinzulegen, um an sein karges Essen heranzukommen - oder ihn selbst zu verspeisen. Der liebenswerte Tor kann immer wieder brenzligen Situationen haarscharf entkommen und verliebt sich eines Tages in eine schöne Frau, obgleich diese ihn mehrmals hintereinander verrät...

„Mutantenwelt“ (Splitter Verlag, 160 Seiten, 35 €) ist eine vom kürzlich verstorbenen amerikanischen Zeichner Richard Corben (1940-2020) gestaltete Endzeit-Graphic Novel (kurz bevor der Begriff von Will Eisner geprägt wurde), die er 1977 als Fortsetzungsgeschichte für das Magazin „1984“ von Warren Publications begann.

Lyrische Momente in einer Welt voll grausamer Gewalt

Da Corben merkte, dass ihm der rote Faden entglitt, tat er sich nach den ersten zwei Kapiteln mit dem Autor Jan Strnad zusammen und ließ diesen die Story weiterschreiben. Nach einer Überarbeitung entstand 1982 die endgültige Fassung, die nun zusammen mit der Fortsetzung von 1990 namens „Sohn der Mutantenwelt“ in einer neu übersetzten Gesamtausgabe vorliegt.

Krieg der Kreaturen. Eine Seite aus „Mutantenwelt“.
Krieg der Kreaturen. Eine Seite aus „Mutantenwelt“.

© Splitter

Entgegen der Verlagsangabe ist nur Band 2 unter Corbens Aufsicht neu koloriert worden, da die ursprüngliche Farbgestaltung des ersten Bands auch rundum gelungen war.

Insbesondere dieser Band 1 von „Mutantenwelt“ gilt zu Recht als ein zentrales Werk Corbens und überzeugt noch heute durch seine stimmige, bildgewaltige Zukunftsvision und Corbens feinen Sinn für grotesk-komische, dabei glaubwürdige wie anrührende Figuren – darunter ein bigotter, in Kampfkunst versierter Mönch, der Dimento eine Weile unter seine Fittiche nimmt und der auch vor dem Einsatz von Gewalt gegenüber seinen Mitmenschen nicht zurückschreckt.

Der Plot lässt sich insgesamt schwer nacherzählen, da das Umherirren Dimentos die Handlung bestimmt und er von einer gefahrvollen Situation in die nächste gerät - bis er in eine militärisch bewachte Forschungsstation gerät, die Aufschluss über die Situation auf dem Planeten gibt...

Höhepunkte der Comic-Erzählung sind gerade die stillen, lyrischen Momente, die in einer Welt voll grausamer Gewalt noch existieren und in denen Corben seine ganze Meisterschaft als Charakterzeichner wie als Erschaffer von Lichtstimmungen zeigen kann.

Giftig-grelle Farben

Wie wenige andere Künstler der 70er und 80er Jahre gelingt es Richard Corben auf leichtfüßige Art und durch mithilfe von Jan Strnad auch mit erzählerischer Finesse, eine aus den Fugen geratene Welt zu zeichnen, in giftig-greller, jedoch immer stimmiger Farbigkeit, die er mit seiner selbst kreierten und perfektionierten Airbrush-Mischtechnik erreichte, die in vergleichbarer Weise sonst nur wenige Fantasy-Coverartists beherrschten.

Eine weitere Szene aus „Mutantenwelt“.
Eine weitere Szene aus „Mutantenwelt“.

© Splitter

Spätere Arbeiten Corbens ab den 90er Jahren wiesen oft nicht mehr die grafische und farbliche Finesse seiner frühen Arbeiten auf und entstanden vermutlich meist unter mehr Zeitdruck.

Die Fortsetzung „Sohn der Mutantenwelt“ von 1990 wird vom Autor Jan Strnad in seinem Vorwort rückblickend als die bessere angepriesen.

[Der Tagesspiegel-Nachruf auf Richard Corben war 2020 einer der meistgelesenen Artikel der Tagesspiegel-Comicseiten. Hier gibt es die zehn Artikel, die im vergangenen Jahr am häufigsten geklickt und am längsten gelesen wurden.]

Dem will ich mich allerdings nicht anschließen, fehlt ihr doch der zentrale und dabei so berührende Charakter wie Dimento in Band 1, und auch ansonsten wirkt sie deutlich gröber gestrickt: Nun ist es ein ganzes Ensemble von Figuren (darunter Dimentos Tochter Dimentia, entgegen dem irreführenden Titel), die sich auf der Flucht vor einer kriegerischen Horde von Mutanten in eine Insel-Festung retten wollen, um in Frieden dort leben und eine neue Zivilisation aufbauen zu können.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Splitter

Die zunächst in Heftform bei Fantagor Press veröffentlichte Fortsetzung hat durchaus interessante, erneut komisch-groteske Charaktere und knüpft klug an das Ende des ersten Teils an, ist aber deutlich action-orientierter und weniger tiefgründig als dieser. Auch Corbens Zeichnungen wirken hie und da – auch durch die Vergrößerung der Seiten vom Heft- aufs Albenformat - etwas gröber und haben nicht durchgängig die Qualität von „Mutantenwelt“.

Die Ausgabe wird abgerundet durch Abbildungen der früheren Originalcover und einiger Bilder, die Hinweise zu Corbens Arbeitstechnik auf Grundlage von Fotos geben. Es wäre wünschenswert, dass auch seine weiteren Meisterwerke der 70er und 80er Jahre wie „Den“, „Neue Geschichten aus 1001 Nacht“ oder „Bloodstar“ in ähnlich sorgfältiger Ausstattung neu herausgebracht und einer neuen Generation von Fantasy/Science Fiction-Lesern zugänglich gemacht würden.

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