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Mitten im Leben: Eine Szene aus „Bei mir zuhause“.

© Jaja-Verlag

Comic-Tagebuch: Die Fackel des Staunens

Paulina Stulin vermittelt in ihrem autobiografischen Comic „Bei mir zuhause“ das Lebensgefühl von Thirty-Somethings zwischen Optimismus und Melancholie.

„Puh, nicht noch so eine Girly-Geschichte“ – das könnten Comic-Kundige beim ersten Blick auf Paulina Stulins „Bei mir zuhause“ (Jaja-Verlag, 612 S., 35 €) denken. Schließlich handelt es sich um einen Tagebuch-Comic einer dreißigjährigen Städterin, noch dazu gezeichnet am Computer.

Allerdings: Paula Stulins Werk hat mit der sogenannten Chicklit à la Margaux Motin („Die Kunst der Anpassung“) und Konsorten wenig gemein, einem Genre also, das in erster Linie vom Klamottenkauf, urbanen Happenings und dem ein oder anderen Flirt berichtet. Und das sich gern vermeintlich offen geriert, wenn zum Beispiel über das eine Speckröllchen zu viel lamentiert wird.

Vor dem Spiegel: Eine Szene aus „Bei mir zuhause“.
Vor dem Spiegel: Eine Szene aus „Bei mir zuhause“.

© Jaja

Aber: Darmstadt ist nicht Paris; der 600 Seiten starke Comic keine Autobiografie light, sondern eher die Indie-Version. Es wird wenig geshoppt und viel nachgedacht, statt Macarons gibt es MDMA, der Sex ist explizit, der Alltag nur manchmal banal, die Gespräche beim Bier intensiv.

Warum nicht einfach mit Konventionen brechen?

Da geht es mal um den schmalen Grat zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus, mal um den Sinn und Unsinn künstlerischen Schaffens. Eine Fotografin fragt die Ich-Erzählerin Paulina auf einer Party, warum sie so eifrig Comics zeichne: „Hauptsächlich wohl um gemocht zu werden“ antwortet diese. Nein, es gäbe definitiv noch andere Gründe, insistiert die Fragende und nennt dann schließlich selbst einen: „Na um die Fackel des Staunens weiterzureichen…“ Das pathetische Mantra stimmt die eh schon gut gelaunten Frauen noch vergnügter.

Eine weitere Szene aus „Bei mir zuhause“.
Eine weitere Szene aus „Bei mir zuhause“.

© Jaja

Dieser Comic reicht die „Fackel des Staunens“ definitiv weiter, weil es ihm gelingt, ein Lebensgefühl zu vermitteln, das sich in seiner Mischung aus Melancholie und Optimismus ziemlich echt anfühlt.

[„Bei mir zuhause“ wurde kürzlich von 30 Comic-Kritiker*innen unter die Top-10-Titel des Quartals gewählt. Hier gibt es die ganze Liste.]

Dies liegt nicht nur an den Fragen, die für die meisten Thirty-Somethings (vor allem für diejenigen aus ähnlichen Soziotopen) problemlos anschlussfähig sein dürften: Wie Zeit sinnvoll nutzen? Und: Warum nicht einfach mit irrationalen Konventionen brechen, die Dinge wie rasierte Achseln, trainierte Körper und Paarbeziehungen als vermeintliche Ideale setzen?

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Jaja

Wie in guten Indie-Serien gelingt es mit detailverliebten, oft stummen Bildern, authentischem Register und einem feinen Gespür für Rhythmus zum Binge-Reading einzuladen.

Da stören dann auch die gelegentlichen thematischen Schnittmengen mit den eingangs erwähnten Girly-Comics nicht: Wenn die (mittlerweile erfolgreich achselbehaarte) Protagonistin ihren „klobigen Arsch“ nach der Morgengymnastik kritisch im Spiegel betrachtet und beschließt „so ne richtig kernige Gesundheitsbitch zu werden“, hat das einen viel sympathischeren Sound.

Marie Schröer

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