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Erdichtete Biografie: Eine Szene aus „Sibylla“.

© Reprodukt

Comicerzählung „Sibylla“ von Max Baitinger: Der Reiz der Leerstellen

Mit Tuschezeichnungen, knappen Sätzen und feinem Humor erzählt Max Baitinger mutmaßliche Szenen aus dem Leben der Barockdichterin Sibylla Schwarz.

Sibylla Schwarz lebte und starb während des Dreißigjährigen Krieges. Sie wurde am 14. Februar 1621 geboren, begann mit zehn Jahren, Gedichte zu schreiben und starb 1638 mit 17 Jahren. Das Wunderkind aus Greifswald hinterließ ein ansehnliches lyrisches Werk, aber wenige biografische Spuren.

Eine weitere Szene aus „Sibylla“.
Eine weitere Szene aus „Sibylla“.

© Reprodukt

Solche Leerstellen empfindet der Leipziger Comiczeichner Max Baitinger als reizvoll. Daher reagierte er auch nur anfangs verhalten, als der Verein Sibylla Schwarz e.V. die Idee einer Graphic Novel anlässlich des 400. Geburtstags 2021 der jungen Dichterin mit dem kurzen und spärlich dokumentierten Leben an ihn herantrug.

Vielmehr, so erklärt er im Gespräch, habe er sich gefragt: Warum sollte ich so ein Buch machen? Warum würde ich sowas lesen wollen? Und er sei bei der Antwort gelandet, dass ihn die Rezeption und die Umstände der Veröffentlichung von Sibyllas Werk interessierten.

Diese Rezeptionsgeschichte fasst Baitinger auf den ersten Seiten seines Comics „Sibylla“ (Reprodukt, 176 S., 24 €) in malerisch-grafischen Tuschezeichnungen und knappen Sätzen zusammen: Wie die Gedichte der jungen Frau nach ihrem Tod von ihren Zeitgenossen gesammelt, kommentiert und veröffentlicht wurden – und wie ihr posthum Verse wie dieser in den Mund gelegt bzw. auf das Deckblatt ihrer gesammelten Werke gedruckt wurden: „Was mir der Himmel hat an Schönheit nicht gegeben / Das hat ersetzt Verstand und Tugend in meim Leben.“

Sibyllas Reaktion auf diese Übergriffigkeit stellt sich der Comicautor in einer Bildabfolge so vor: Aus schwarzen Ärmeln ragende Hände schlagen mit einem lauten KLAPPS ein dickes gebundenes Buch zu, dann holt ihre schwarz gekleidete Gestalt in sechs Etappen mit dem Buch in der Hand zum Wurf aus und schleudert das Werk in hohem Bogen in den Greifswalder Bodden.

Der Vater unterstützte ihr Schreiben

Folgerichtig ist der Comic denn auch keine Biografie im eigentlichen Sinne. Vielmehr erzählt er mit feinem Humor mutmaßliche Szenen aus dem Leben der Barockdichterin, die als jüngste Tochter nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrem Vater blieb, um ihm zur Hand zu gehen. Christian Schwarz, Bürgermeister von Greifswald, ließ seiner Tochter Bildung angedeihen und unterstützte ihr Schreiben.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Reprodukt

Baitinger malt uns das zum Beispiel so aus, dass der rundliche Vater mit der blonden Eisenherz-Frisur und dem Schnäuz seiner Tochter stolz ihren neu bestückten Arbeitsplatz enthüllt – vom Liter tiefschwarzer Tinte bis zur weißen Gans Mathilde mit ihren ansehnlichen Federn. Gezeichnet ist das alles in wunderschönen Tuscheschwüngen, Aquarellschattierungen und auf pastellfarbenen Untergründen, voller Abstraktion und grafischer Gestaltungslust.

[„Sibylla“ gehörte 2021 für die Tagesspiegel-Leser:innen zu den besten Comics des Jahres, hier gibt es die Liste aller Empfehlungen. Und auch für Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne war Baitingers Buch einer der stärksten Titel 2021 - hier gibt es seine Top-5-Liste.]

Für die Arbeit an „Sibylla“ erhielt Baitinger 2020 den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung, dessen Jury die Autorin dieses Artikels angehört.

Die Zeichnungen der Figuren lassen Baitingers zum Beispiel aus seinem 2016 erschienenen Comic „Röhner“ bekannten Stil erkennen, in dem er in wenigen Worten, klaren Linien, abstrakten Formen und viel Weißraum erzählt, wie ein raumgreifender Eindringling die etablierte Ordnung des eigenbrötlerischen Ich-Erzählers durcheinander bringt.

Auch der sehr ausbalancierte Seitenaufbau ist typisch für Max Baitinger. Die Tuschelinien in „Sibylla“ sind aber weicher geschwungen als in vorigen Werken, es gibt aquarellierte Farbverläufe, erkennbare Striche mit breitem Pinsel und zart-monochrome Flächen. Das hat etwas Poetisches und passt sehr gut zum – teilweise – erdichteten Leben einer Dichterin.

Barbara Buchholz

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