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Ausgeliefert: Ein Ausschnitt aus „Vasja, dein Opa“.

© Rotopolpress

Gezeichnete Familiengeschichte: Das Leid der Entwurzelten

Anna Rakhmanko erzählt in dem Comic „Vasja, dein Opa“ vom Schicksal ihrer Familie unter Stalin, Mikkel Sommer findet dafür beeindruckende Bilder.

Es ist mitten in der Nacht, als das Leben einer ganzen Familie eine tragische Wendung nimmt. Bewaffnete Soldaten dringen in ihr Haus in der Siedlung Aristovka in Rumänien ein, die zum damaligen Zeitpunkt bereits unter sowjetischer Kontrolle steht. Sachen packen dürfen sie nicht, nur heimlich greifen sie schnell nach ein paar persönlichen Dingen, bevor sie später in einen Güterwagen verladen werden.

Wohin sie gebracht werden, wissen sie nicht. Das geschah am 12. Juni 1941, zehn Tage vor dem russischen Beginn des Zweiten Weltkriegs, als deutsche Truppen die Sowjetunion überfallen. Es ist die Geschichte von Vasja, seinen Eltern und seinen drei Geschwistern.

Erst viele Jahre nach dem Tod ihres Großvaters erfährt die Autorin Anna Rakhmanko bei einem Besuch ihrer Großtante Ljuba, Vasjas kleine Schwester, in Nordsibirien von dem tragischen Schicksal ihrer Familie. Wie diese einst ihrer rumänischen Heimat entrissen und in den eiskalten Norden deportiert wurde, um in sowjetischen Lagern zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden. Wie Leid, Hunger und Tod dort ihr Leben bestimmten.

In der dokumentarischen Graphic Novel „Vasja, dein Opa“ (Rotopol, 100 Seiten, 18 Euro) erzählt Autorin Anna Rakhmanko, die 1988 geboren und in Sibirien aufgewachsen ist, aus Ljubas Perspektive von den schmerzhaften Erinnerungen an die jahrzehntelang zurückliegenden Ereignisse.

Der aus Dänemark stammende Zeichner Mikkel Sommer lässt dazu mit skizzenhaftem Strich düstere Bilder entstehen, die die bedrückende Atmosphäre eindrucksvoll transportieren.

Rakhmanko und Sommer, die mit ihrer Tochter in Berlin und Athen leben, haben zusammen bereits andere Graphic-Novel-Projekte umgesetzt, die auf wahren Begebenheiten beruhen. So dokumentierten sie in der biografischen Erzählung „Strannik“, basierend auf eigenen Recherchen, das Leben des russischen Käfigkämpfers Vyacheslav.

In ihrem nächsten Werk soll es um eine in Berlin lebende Sexarbeiterin und Künstlerin gehen, die die beiden dafür interviewt und begleitet haben. Sommer wurde für das dokumentarische Projekt in diesem Jahr mit dem Comic-Stipendium des Berliner Senats ausgezeichnet.

Viele sterben auf der Reise, die Leichen stapeln sich

Mit ihrer neuesten Graphic Novel greifen sie nun ein sehr persönliches Stück von Rakhmankos Familiengeschichte auf und zugleich ein grausames Kapitel in der Historie: das sowjetische Repressionssystem der Straf- und Arbeitslager, auch „Gulag“ genannt.

Naturgewalt: Eine weitere Szene aus „Vasja, dein Opa“.

© Rotopolpress

Rakhmanko hat für den Comic die historischen Hintergründe recherchiert und in Archiven Nachforschungen angestellt. Demnach wurden allein zwischen 1941 und 1942 etwa 1,2 Millionen Menschen aus Grenzregionen der UdSSR in sowjetische Arbeitslager deportiert, neben Rumänien auch aus Litauen, Lettland und Estland. Unter Diktator Josef Stalin sollten so angebliche „Verräter“ und „unerwünschte Elemente“ entfernt werden.

Als Vasjas Familie deportiert wurde, war Ljuba gerade einmal fünf Jahre alt. Die Schilderungen der inzwischen über 80-Jährigen, die noch heute in Sibirien lebt, berühren. Sie erzählt davon, wie die Menschen eng eingepfercht in den Zügen verharren, ohne Essen und nur mit ein bisschen Wasser, das kaum ausreicht, um ihren Durst zu löschen.

Dass viele diese Strapazen nicht überleben, sich nach und nach in dem Wagen die Leichen stapeln. Lebende dicht an dicht neben Sterbenden und Toten sitzen. Unter menschenunwürdigen Bedingungen und bei eisiger Kälte müssen sie später harte körperliche Arbeit verrichten wie Baracken bauen, Holz schleppen oder nächtelang Fischernetze nähen. Zachary, der Vater der Geschwister, erleidet bei der Arbeit einen Milzriss und stirbt.

Bilder der Ausweglosigkeit

Erstaunlich ist, wie genau sich Ljuba nach all den Jahren an alles erinnert. Es zeigt, wie sich die grausamen Ereignisse in ihr Gedächtnis eingeprägt haben. Dass diese einen auch als Leser:in nicht loslassen, ist nicht zuletzt der beeindruckenden Kraft von Mikkel Sommers Zeichnungen zu verdanken.

Eine weitere Seite aus „Vasja, dein Opa“.

© Rotoplpress

Über besondere Bildausschnitte und Blickwinkel gelingt es ihm, die Ausweglosigkeit auf einer anderen Ebene greifbar zu machen. Wenn er die zusammengekauerten Menschen in den Güterwagen abbildet und die schmalen Panelrahmen nur Teile der Gesichter und Körper zum Vorschein bringen, wird die Enge beinahe physisch spürbar.

Variationsreich ist zudem die Wahl der räumlichen Perspektiven. Mal zeigt er eine Menschengruppe, kurz bevor diese in den Wagon steigt, von hinten aus einer leichten Untersicht. So ist man auch als Betrachter:in des Bildes mitten im Geschehen, fast wie einer von ihnen.

Ein anderes Mal, während eines Unwetters über dem Fluss, wird der Blick von oben, beinahe aus der Vogelperspektive, auf die Deportierten in einem Kahn gerichtet. Ihre Gesichter zeugen von blanker Panik, viele Menschen sowie auch einige Pferde gehen über Bord und ertrinken in den tosenden Wellen. Ein Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins.

Viele der Panels sind in Schwarz und Grautönen gehalten, stellenweise aber in dezenten Violetttönen koloriert. Menschen mit leeren, gesenkten Blicken und Köpfen sind zu sehen, ihre Mimik oft leidvoll verzerrt.

Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Rotopolpress

In all der Tragik, die in ihren ausdrucksstarken Gesichtern erkennbar ist, erinnern sie zuweilen an Werke der Künstlerin Käthe Kollwitz, die sich immer wieder mit den Themen Krieg, Elend und Tod auseinandersetzte. Angesichts von Verzweiflung und Trauer sind die Menschen in ihren Lithografien und Radierungen schmerzvoll in sich versunken.

Beeindruckend sind dazu die landschaftlichen Szenerien, die Weite und Verlorenheit der sibirischen Steppe, aber auch Bilder wie eine riesige, schwere Wolkendecke über der winzig wirkenden Schiffskarawane auf dem Fluss, die verreisten Straßen oder der verlassene Hafen im sibirischen Nowy Port, wo Vasja später als Fischer arbeitete. Die Bilder strahlen eine ungemeine Trostlosigkeit aus, sind bedrückend und ästhetisch zugleich.

In Sibirien, dieser kargen Gegend, verbrachte Vasja, so wie auch Ljuba, sein restliches Leben. Erst 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, waren sie frei. Vasja, der inzwischen selbst Kinder hatte, ging mit ihnen und seiner Frau zunächst für nicht einmal ein Jahr in seine rumänische Heimat zurück. Aber es war nicht mehr sein Zuhause. So kehrten sie wieder zurück in den kalten Norden.

Birte Förster

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