zum Hauptinhalt

© Lars von Törne

Comics auf der Documenta: Die begehbaren Bildgeschichten von Kassel

So viel Comic wie in diesem Jahr gab es auf der Documenta nie zuvor. Ein Stadtrundgang auf den Spuren der Kunstform.

18 große Seidentücher hängen von der Decke einer ehemaligen Lagerhalle am Stadtrand von Kassel. Auf ihnen sind zwei menschliche Figuren vor Stadt- und Naturszenen zu sehen, gemalt mit schwarzer, sanft auf dem Stoff verlaufender Tinte. Zwischen den Tüchern gehen Menschen hindurch und scheinen für einen kurzen Moment Teil der Bildkomposition zu sein. Die Seidenbilder gehören zur Bilderzählung „abfackeln“ des Berliner Künstlers Nino Bulling und sind eine von zahlreichen Arbeiten auf der diesjährigen Documenta in Kassel, die von Comicschaffenden stammen.

So präsent wie diesmal war der Comic auf der alle fünf Jahre stattfindenden internationalen Ausstellung noch nie – und wohl auch nicht auf anderen Kunstveranstaltungen dieser Größenordnung. Man kann der Leitung der documenta fifteen vieles vorwerfen, von der unkritischen Zurschaustellung antisemitischer Bilder über eine mangelhafte Kommunikation mit der Öffentlichkeit bis hin zur oft nur bruchstückhaften Vermittlung des Kontextes der gezeigten Arbeiten, die in diesem Jahr besonders stark politisch konnotiert sind. Wie die Kasseler Schau allerdings der Kunstform Comic, die im klassischen Ausstellungsbetrieb lange Zeit unterrepräsentiert war, ganz selbstverständlich eine große Bühne bietet, ist vorbildlich. 

Nino Bulling, der bis vor einigen Jahren unter dem Namen Paula Bulling dokumentarische Avantgarde-Comics zu politischen Themen veröffentlicht hat, präsentiert als geladener Gast der Documenta sein aktuelles Werk in zwei Formen: Zum einen als in Kassel in Buchform ausliegende Comicerzählung, kürzlich gemeinsam veröffentlicht von den Verlagen Edition Moderne und Colorama (160 S., 24 €). Zum anderen als mitten im Raum hängende Seidentücher, die meisten Quadrate von etwa zwei mal zwei Metern Größe.

Auf den Tüchern sind Szenen gemalt, die sich so ähnlich auch im Buch finden, wenngleich dort mit fragilerem Strich gezeichnet und als Teil einer durchgehenden Handlung gedacht. In der erzählt Bulling anhand der fiktiven Figur Ingken, die sich weder als Frau noch als Mann sieht, von fluiden Identitäten, der schwierigen Balance von Nähe und Distanz in menschlichen Beziehungen und dem Wechselverhältnis von äußerer und innerer Welt vor dem Hintergrund des menschlichen Raubbaus an der Natur.

Documenta-Besucherinnen bei der Lektüre von Nino Bullings „abfackeln“, im Hintergrund Seidentücher mit Motiven aus dem Buch.

© Lars von Törne

Viel schwerer Stoff, den der Berliner Zeichner aber mit einer ästhetischen Leichtigkeit und gutem Gespür für Dialoge vermittelt. Bullings eleganter, fließender Strich und seine auf das Wesentliche reduzierten Panels machen sich auch als Seidentücher gut. Für sich genommen, sind sie grafische Kunstwerke, die etwas von der Atmosphäre in „abfackeln!“ vermitteln, auch wenn sie im dreidimensionalen Raum kein zusammenhängendes Narrativ bilden. Dieses erschließt sich dem Publikum erst, wenn es die auf einer zum Verweilen einladenden Sitzecke ausliegenden Bücher in die Hand nimmt, in denen die Geschichte gelesen werden kann. Viele Besucher:innen nehmen das auch wahr, wie man beobachten kann.

Mit den „The BPoc Art Avengers“ gegen Ausbeutung und Stereotypisierung

Nur wenige Meter von Bullings Arbeiten entfernt lassen sich zwei weitere raumfüllend präsentierte Comic-Werke entdecken. Auf derselben Etage des alten Lagerhauses hängen 16 handtuchgroße rosafarbene Stoffstücke im Raum, die in sequenziell zu lesenden Bildern eine zusammenhängende Geschichte vermitteln. Die handelt in Anlehnung an klassische Superhelden-Comics von einer Gruppe namens „The BPoc Art Avengers“, einer Gruppe von Aktivist:innen, die sich gegen die Ausbeutung und Stereotypisierung von Schwarzen Menschen in der Kunstwelt einsetzen.

Die Comic-Installation „The BPoc Art Avengers“ von Krishan Rajapakshe.

© Lars von Törne

Gezeichnet hat es der in Berlin lebende Künstler Krishan Rajapakshe in einem rohen, vieles nur andeutenden Stil, der ästhetisch an Holzschnitte erinnert. Neben Sitzsäcken auf dem Boden findet sich ein Sammelband in Buchform, der diese und andere Beiträge in gedruckter Form enthält: „*foundationClass – the book“, herausgegeben vom Kreuzberger Kunstverein Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (ngbk). Die *foundationClass wurde an der Kunsthochschule Weißensee gegründet und fördert Geflüchtete und Migrant:innen, die in Deutschland eine Kunstausbildung starten oder fortsetzen möchten.

Renaissance des Fotoromans

Zwei Stockwerke höher wird eine Spielart des Comics auf fast einer ganzen Etage präsentiert, die den meisten Menschen hierzulande durch die „Foto-Love-Story“ der Zeitschrift „Bravo“ vertraut sein dürfte, aber als „Fotoroman“ eine viel längere Tradition hat: Gestellte Fotografien mit Sprechblasen, die in der Sequenz eine Geschichte ergeben. „Borrowed Faces“ heißt das Foto-Comic-Projekt des Künstlerkollektivs Fehras Publishing Practices. Das wurde 2015 in Berlin gegründet und will mit seinen theatralisch in Szene gesetzten Episoden „Geschichte und Gegenwart des Verlagswesens und dessen gesellschaftspolitische und kulturelle Verflechtungen im östlichen Mittelmeerraum, Nordafrika und der arabischen Dispora“ erkunden, wie die Gruppe über sich schreibt.

Foto-Comic: Ein Ausschnitt aus der Bilderzählung „Borrowed Faces“ des Künstlerkollektivs Fehras Publishing Practices.

© Lars von Törne

Für die hier auf großen Fototafeln ausgestellten Arbeiten, die es an einem Tisch auch gedruckt in Heftform zu lesen gibt, hat die Gruppe Akteure mit leicht übertrieben wirkender, an Stummfilme erinnernder Mimik historische Szenen aus der arabischen Verlagswelt in der Zeit des Kalten Krieges nachspielen lassen. Die meisten Darsteller sind Männer, die zum Teil in stark geschminkte Form auch Frauenrollen übernehmen.

Das wirkt spielerisch, aber angesichts der weitgehenden Abwesenheit von Frauen an diesem Projekt auch irritierend, wenn man dann liest, dass es das Ansinnen der Gruppe ist, feministische Diskussionen über die Rolle intellektueller Frauen zu reflektieren. Das Projekt wirkt, wie die Erzählform des Fotoromans, daher einerseits etwas aus der Zeit gefallen. Andererseits passt die Form ganz gut zum Zeitraum, der hier behandelt wird – und die weitgehende Abwesenheit von Frauen als Akteurinnen im Kalten Krieg wird durch deren Darstellung durch Männer umso deutlicher.

Traditionelle mexikanische Motive treffe auf Streetart-Kultur

Zeitgemäßer sieht der Beitrag einer Gruppe mexikanischer Comic-Künstler:innen aus, die gemeinsam eine Bilderzählung erarbeitet haben, die in einem zentralen Gebäude der Documenta zu sehen ist, dem ruru-Haus. In der aus schwarz-weißen Bleistiftzeichnungen bestehenden Arbeit „Kuns by Return“, deren Titel leider nirgendwo erklärt wird, vermittelt das aus Mexiko City stammende Kollektiv Cooperativa Cráter Invertido ein modernes urbanes Märchen, das traditionelle Bildmotive und moderne Streetart-Kultur zusammenbringt.

Aus Mexiko City nach Kassel: Zwei Seiten aus „Kuns by Return“ der  Cooperativa Cráter Invertido.

© Lars von Törne

Da der von den Gruppenmitgliedern gemeinschaftlich gezeichnete Comic weitgehend ohne Wort auskommt, ist er auch für Besucher ohne Spanischkenntnisse eine faszinierende Lektüre, die unter anderem Themen wie die Auswirkungen der Kolonialzeit und des modernen Kapitalismus sowie die zeitenübergreifende Kraft von Geistern und kulturellen Traditionen behandelt.

Dieses Projekt ist Teil einer Gruppenausstellung des Netzwerks „Art Collaboratory“, das in dem Gebäude mehrere Projekte ausstellt. Allerdings fehlen hier – wie an zahlreichen anderen Orten der Documenta – weitergehende Informationen, um sich die jeweiligen Kunstwerke und ihren Kontext erschließen zu können. So sind einzelne Comicseiten aus „Kuns by Return“ in einem Glaskasten in einer ansonsten leer wirkenden Ecke des Gebäudes ausgestellt. Die meisten Documenta-Gäste gehen hier achtlos vorbei.

Dass die gezeigten Originalzeichnungen zu einer Albumveröffentlichung gehören, die eine durchgehende Comicgeschichte erzählt und eine Etage tiefer im Documenta-Buchladen auch in gedruckter Form zu bekommen ist, erfährt der an Comics interessierte Besucher erst nach längerer Suche und gezielter Nachfrage im Buchladen. Das ist angesichts des hohen zeichnerischen Niveaus und der faszinierenden Bildsprache der hierzulande kaum bekannten Cooperativa Cráter Invertido, deren Veröffentlichung man viele Leser:innen wünscht, ein echtes Versäumnis.

Gezeichnete Stadtrundgänge und Mitmachspiele mit Comic-Elementen

Im ruru-Haus, das vielen Documenta-Gästen als erste Anlaufstelle dient, befindet sich mit dem Buchladen im Erdgeschoss einer der zentralen Orte, um Publikationen zu entdecken, die speziell für die Documenta geschaffen wurden oder zumindest zu diesem Zweck aus aller Welt hierhergebracht wurden. Darunter auch einige weitere Comics.

Fundgrube: Der Buchladen im ruru-Haus.

© Lars von Törne

Besonders ins Auge fällt das Buch „Gehen, finden, teilen“, das im Untertitel als „illustriertes Begleitbuch zur Documenta Fifteen“ bezeichnet wird und an dem eine Handvoll heimischer Künstlerinnen beteiligt waren, die sich unter anderem durch Comics und illustrierte Erzählungen einen Namen gemacht haben, darunter Nadine Redlich, Malwine Stauss, Julia Kluge, Carmen José und Rita Fürstenau, Illustratorin und Gründerin des auf Avantgarde-Comics spezialisierten Kasseler Verlages Rotopolpress.

Ihr Gemeinschaftswerk „Gehen, finden, teilen“ vereint gezeichnete Stadtrundgänge, Mitmachspiele mit Comic-Elementen und auch ein paar originäre Comic-Kurzgeschichten, die davon handeln, was sich bei den Ausstellungen quer durch Kassel entdecken lässt. Das Ergebnis ist durch die vielen unterschiedlichen Zeichen- und Erzählstile eine Art Wundertüte in Buchform, die einige Überraschungen bereithält, aber auch ein wenig irritiert, da nicht immer ganz klar ist, wer hier das Zielpublikum ist.

Kinderfreundlich: Zwei Seiten aus dem illustrierten Documenta-Führer „Gehen, finden, teilen“.

© Documenta

Manches, wie die „Humor-Tour“ des portugiesischen Kinderbuch-Teams Isabel Minhós Martins und Bernardo P. Carvalho, scheint explizit für Documenta-Besucher im Grundschulalter geschaffen, andere Beiträge wie die „Transparenz-Tour“ des aus Indonesien stammenden Illustrators Innosanto Nagara, setzen Kenntnisse komplexer Konzepte wie Gender und politischer Zusammenhänge voraus, die Kinder überfordern dürften. Visuell anregend dürfte die Lektüre dieses Buches allerdings für Leser:innen jeden Alters sein.

Daneben bietet der Documenta-Buchladen weitere Comic-Entdeckungen, die man hierzulande wohl nirgendwo anders findet: Von ins Englische übersetzten Comics indonesischer Selfmade-Publisher bis zu der Comicerzählung „Mixed Feelings“, in der die Künstlerin Madina Zholdybekova, die aus Kasachstan stammt und in London lebt, von den komplexen Gefühlen in Bezug auf ihre Mutterschaft erzählt.

Comicverlage aus Lettland, Finnland, der Schweiz und Slowenien

Rita Fürstenaus Verlag Rotopolpress ist übrigens nicht nur einer der wichtigsten deutschen Verlage für Avantgarde-Comics – ihr Ladengeschäft in Kassel ist während der Documenta ebenfalls eine wichtige Adresse. Rotolpress ist einer von gut 20 Verlagen aus aller Welt, die im Netzwerk „lumbung of publishers“ zusammengeschlossen sind. Das haben die auf Vernetzung bedachten Documenta-Kurator:innen vom indonesischen Kollektiv Ruangrupa initiiert, um unabhängige Verlage und Kollektive zu stärken.

Der Rotopolpress-Laden ist auch unabhängig von der Documenta eine wichtige Adresse für Comicfans.

© Lars von Törne

Das Bemerkenswerte dabei: Gut ein Viertel der ausgewählten Verlage sind im Bereich Comics aktiv. Neben Rotopolpress und der zuvor erwähnte Cooperativa Cráter Invertido aus Mexiko sind dies der für seine Comic-Anthologien bekannte Verlag kuš! aus Lettland, das Avantgarde-Comicmagazin „Kutikuti“ aus Finnland, die ebenfalls auf eher avantgardistische Comics spezialisierte Zeitschrift „Strapazin“ aus der Schweiz und das slowenische Independent-Comic-Magazin „Stripburger“. Aktuelle Veröffentlichungen dieser und der anderen im „lumbung of publishers“ zusammengeschlossenen Verlage lassen sich im Rotopolpress-Laden entdecken, der sich eineinhalb Kilometer westlich vom ruru-Haus befindet.

Kritische Comics zum australischen Einwanderungssystem

Auf halbem Weg zwischen Rotopolpress und dem ruru-Haus lassen sich weitere Comics entdecken, die speziell für die Documenta geschaffen wurden. Im Stadtmuseum werden mehrere Räume und Präsentationsflächen an den Wänden von dem in Australien lebenden Künstler Safdar Ahmed bespielt. Der promovierte Islamwissenschaftler arbeitet als Produzent kritischer Dokumentarfilme zum australischen Einwanderungssystem, hat sich aber auch in Texten, Heavy-Metal-Musikstücken und immer wieder auch in Form von Comics mit diesem Thema befasst, so in seiner preisgekrönten Graphic Novel „Still Alive“. Darin schildert er in dokumentarischem Stil die oft entwürdigende Behandlung von Menschen, die in Australien politisches Asyl beantragt haben.

 „Alien Citizen“: Safdar Ahmed thematisiert in seinen Comics das australische Einwanderungssystem, hier zwei Seiten aus dem für die Documenta erarbeiteten Heft.

© Lars von Törne

Für Kassel hat Ahmed ein Magazin in quadratischer Schallplattenform mit dem Titel „Alien Citizen“ erarbeitet, das man in seiner Ausstellung lesen und gratis mitnehmen kann. Darin kombiniert er eine eigene Comic-Kurzgeschichte in einem an Polit-Comics der 1970er Jahre erinnernden Strich mit Illustrationen und Texten anderer Künstler:innen der von ihm gegründeten Gruppe „The Refugee Art Project“, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie sind allesamt als Geflüchtete nach Australien gekommen.

Die Kunstform Comic wird hier vor allem als didaktisches Medium eingesetzt, um Informationen über die Ungerechtigkeiten der australischen Politik anschaulich zu vermitteln. „Comics sind für mich eine demokratische Kunstform, die für alle zugänglich ist“, schreibt die aus dem Iran stammende und in Australien lebende Künstlerin Zeinar Mir in ihrem Bilder und Texte kombinierenden Beitrag für das Magazin, in dem es um Themen wie Islamophobie und Rassismus in Australien geht. Comics könnten „eine Geschichte erzählen und zugleich kreativ und künstlerisch sein“.

Victoria Lomasko als zeichnenden Documenta-Chronistin

Eine Zeichnerin, die sich ebenfalls als politische Aktivistin versteht und im Grenzbereich von Comics und Illustration arbeitet, ist die russische Exil-Künstlerin Victoria Lomasko. Die hat kurz vor Beginn der Documenta ihrem Heimatland aus Protest gegen den Überfall auf die Ukraine den Rücken gekehrt und lebt jetzt an verschiedenen Orten in Westeuropa. Sie wurde in Kassel kurzfristig als „Harvesterin“ engagiert, was bedeutet, dass sie die Documenta in Zeichnungen und comicartigen Bild-Text-Kombinationen dokumentiert, die aber erst gegen Ende der Veranstaltung veröffentlicht werden sollen, wie man an einem Infostand in Kassel erfährt. Lomasko hat sich zuvor einen Namen gemacht durch die Dokumentation der Folgen des Putin-Regimes für Menschen am Rande der Gesellschaft.

Das ruru-Haus im Abendlicht.

© Lars von Törne

Dass gezeichnete Geschichten auf der in diesem Jahr von dem indonesischen Kunstkollektiv Ruangrupa kuratierten Documenta ein so großes Gewicht haben, erklärt  Pressesprecherin Henriette Sölter so: „Das Geschichtenerzählen, auch auf visueller Ebene, ist eine wesentliche Praxis im Rahmen der documenta fifteen – bei vielen ausgestellten Arbeiten, die Storytelling durch Medien wie Comics, performativen Film oder Performance nutzen, aber auch im Rahmen der Harvesting-Praxis, in der viele leicht zugängliche Formate verwendet werden, darunter Podcasts, Radio, (nachgestellte) Fernsehformate, comicähnlichen Graphic Recordings und so weiter.“

Geschichten seien offen für Interpretationen, können leicht erinnert und weitergegeben werden, sagt die Documenta-Sprecherin. „Sie können Wissen, tiefere Bedeutungen und Zusammenhänge vermitteln und sind gleichzeitig leicht zugänglich – Eigenschaften, die ebenfalls auf Formate der Populärkultur wie Comics zutreffen.“ Es gehe darum, „einander zuzuhören und voneinander zu lernen, ohne auf traditionelle Weise belehrt zu werden.“

Eine neue Gewerkschaft für Comicschaffende

Zwei weitere Comicprojekte von Nino Bulling wurden zwar auf der Documenta gestartet, die Ergebnisse werden aber nicht alle vor Ende der Kunstschau am 25. September öffentlich zu sehen sein, sondern sollen darüber hinaus Wirkung zeigen. So fand kürzlich in Kassel in Zusammenarbeit mit dem libanesischen Kollektiv Samandal Comics ein internationaler Workshop mit einem Dutzend queerer und trans Zeichner:innen aus mehreren Ländern statt, dessen Ergebnisse voraussichtlich Anfang kommenden Jahres in einem Sammelband veröffentlicht werden sollen.

Nino Bulling und eine Seite aus seinem neuen Buch „abfackeln“.

© SCHIRIN MOAIERI/DOCUMENTA, EDITION MODERNE/COLORAMA

Und Anfang September will Bulling zusammen mit einem Dutzend engagierter Kolleg:innen die Gründung einer Comic-Gewerkschaft verkünden, die die Interessen von Menschen vertreten sollen, die in dieser Kunstform arbeiten. Dabei geht es um die Vertretung gegenüber Verlagen und Auftraggeber:innen ebenso wie um Hilfe im Zusammenhang mit Kulturförderprogrammen und ähnlichem. „Wir arbeiten gerade an einer Studie darüber, was Comiczeichner:innen verdienen, welches die strukturellen Probleme sind und ähnliche Fragen“, sagt Bulling. Ende August soll die neue Website comicgewerkschaft.org online gehen.

In der medialen Wahrnehmung und im politischen Diskurs wird die Documenta seit ihrer Eröffnung im Juni oft auf das Thema Antisemitismus reduziert, primär wegen der Kontroversen um zwei Werke mit antisemitischer und antiisraelischer Bildsprache, darunter ein Wandbild des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das im Juni kurz nach Beginn der Debatte entfernt wurde.

Wie nimmt Comic-Künstler Nino Bulling die Debatte wahr? „Ich fand das Bild auch problematisch und die Auseinandersetzung damit nicht einfach“, sagt er. Ihm fehlte allerdings in der öffentlichen Debatte eine Einordnung des Kontextes dieses Bildes, das zu einem Ensemble von Arbeiten gehörte, die sich mit der Suharto-Diktatur in Indonesien beschäftigte. „Das war eine verpasste Chance“, sagt er: „Das wäre eine gute Möglichkeit gewesen, mehr voneinander zu lernen und den Kontext von Arbeiten wie dieser zu ergründen.“

Stattdessen sei die Debatte sehr schnell polarisiert worden. Und vor allem konservative und politisch rechts stehende Akteur:innen hätten die Gelegenheit genutzt, „den post- und dekolonialen Diskurs zu bekämpfen“, der auf der diesjährigen Documenta besonders vielfältig zum Ausdruck kommt. Vor allem die deutsche Medien haben sich Bullings Ansicht nach so sehr auf dieses Thema konzentriert, dass dabei viele sehr gelungene Seiten der Documenta kaum gewürdigt wurden. „Der Reichtum, der Witz, die Verspieltheit dieser Ausstellungen kommt leider hierzulande in den Medien kaum vor – anders als in der internationalen Berichterstattung.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false