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Diese Sitzlandschaft bietet ultimative Geborgenheit. Seite aus „Hort“ von Marijpol.

© Edition Moderne

Comic über Geschlechterrollen: Wann ist eine Frau eine Frau?

In ihrem neuen Buch „Hort“ stellt die Hamburger Comickünstlerin Marijpol die Frage danach, was Weiblichkeit eigentlich ausmacht.

Traditionelle Erwartungen an Frauenkörper erfüllen Petra, Denise und Ulla eher nicht. Ulla ist riesig und üppig, der skulpturale Körper der Bodybuilderin Petra erinnert in seiner Perfektion eher an griechische Statuen oder He-Man aus der Action-Figuren-Serie „Masters of the Universe“, die in den 80er Jahren über die Bildschirme des Nachmittagsprogramms flimmerte. Denise, halb Mensch, halb Reptil, trägt an Stelle der linken Hand den Kopf einer Giftschlange und ihr linkes Bein ist ein langer Schlangenleib.

Anhand dieser ungewöhnlichen Heldinnen geht die Hamburger Comickünstlerin Marijpol (bekannt unter anderem für ihre Werke „Trommelfels“ und „Eremit“) in ihrem kürzlich erschienenen Comicband „Hort“ (Edition Moderne, 368 Seiten, Softcover) der Frage nach, was Weiblichkeit eigentlich ausmacht.

Die drei Freundinnen leben in einer WG zusammen wie in einer Familie. Denise unterstützt Petra bei ihren Bodybuilder-Wettbewerben, Petra und Ulla nehmen als Support an dem Yoga-Kurs teil, in dem Lehrerin Denise keinen leichten Stand hat. „Hort“ widmet jeder der Protagonistinnen ein eigenes Kapitel. Immer wieder begegnen sie drei vernachlässigten Kindern, die in der Nachbarschaft wohnen und immer allein unterwegs sind. Stück für Stück erfährt man, dass sie in einer verwahrlosten Wohnung leben, die Mutter ist meist abwesend.

Kritischer Blick auf Weiblichkeit und Mutterschaft

Im zweiten Teil des Buches werden die Begegnungen häufiger und schließlich beginnen Petra, Denise und Ulla, für die Kinder zu sorgen. Jedes Kind hängt sich quasi an eine der Frauen, die bisher nur für sich und einander sorgten. Plötzlich sehen diese sich dadurch mit gesellschaftlichen und eigenen Erwartungen und Wünschen an die Konzepte von Mutterschaft und Weiblichkeit konfrontiert.

Ein Bild von einer Frau: Der skulpturale Körper der Bodybuilderin Petra erinnert in seiner Perfektion an eine griechische Statue.

© Edition Moderne

Petra leidet darunter, dass Männer sie als Körper-Objekt wahrnehmen, dabei sehnt sie sich nach einer Beziehung und hegt einen Kinderwunsch. Ulla hat zwar einen Freund, will aber keine Kinder – im Gegensatz zu ihm. Denise zeichnet sich durch Aggression und Geschäftssinn aus. Statt mütterlich verhält sie sich eher kumpelhaft den Kindern und selbst ihrem überraschenden eigenen Nachwuchs gegenüber.

Der Titel „Hort“ lässt sich erst im Verlauf auf die Handlung beziehen. Ein „Hort“ ist nicht nur das, worunter heute Betreuungsorte für Kinder nach der Schule verstanden werden, sondern kann auch einen Schatz bedeuten (wie etwa in „Brigitte und der Perlenhort“ von Aisha Franz) oder allgemeiner für einen sicheren Ort, Schutz und Zuflucht stehen. Die Wohnung der Frauen, konzeptionell gestaltet durch Ulla, ist so ein Ort, für sie selbst und schließlich auch für die Kinder, ganz ohne klassischen Vorstellungen von Familie zu entsprechen.

Einsichten ins Innere durch biomorphe Architektur

Design, Räume und Raumgestaltung spielen eine wichtige Rolle in „Hort“. Schon in ihrem Debüt „Trommelfels“ (2011, avant-Verlag) ließ Marijpol ihre Protagonist:innen durch Höhlen irren, die sich wie innere Organe im Erdinneren verbargen. In „Hort“ wirkt das fantastische Setting des monochrom in Lila und Weiß gehaltenen Comics stellenweise wie von dem Schweizer Künstler Hans Rudolf Giger gestaltet, der für seine Visual Effects in dem Film „Alien“ (1979) mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.

Der runde U-Bahnschacht erinnert an das Innere eines riesigen Körpers mit hervorstehenden Wirbeln im Gewölbe. Doch statt klaustrophobisch zu werden, strahlen die Räume Geborgenheit aus. Die mit weichen, fließenden Linien gezeichneten Figuren bewegen sich leicht durch die biomorphen Architekturen und Einrichtungsstile, die im Hintergrund meist nur schemenhaft angedeutet werden. Ihnen gegenübergestellt sind etwa die kühlen, geraden Linien des Wohnblocks, in dem die Kinder leben.

Das Cover von „Hort“

© Bild: Edition Moderne

Die drei Kinder bilden während der Abwesenheit der Mutter eine Leidensgemeinschaft, in denen die große Schwester, die selbst erst zehn Jahre alt ist, die Verantwortung für sich und die beiden Geschwister übernimmt. Doch dieser tragische Handlungsstrang spielt in „Hort“ eher eine Nebenrolle. Er hält vielmehr den kollektiven Erwartungen an eine „gute“ Mutter einen Spiegel vor. Dass sie ihren Kindern weder Schutz noch regelmäßige Mahlzeiten bietet, zeigt zwar, dass die Kinder offenbar extrem vernachlässigt werden.

Wie muss eine Mutter sein – und was macht sie zur Rabenmutter?

Doch bevor wir uns fragen, welche Gründe sie hat, ihre Kinder allein zu lassen, urteilen wir schon über sie. Das Wort „Rabenmutter“ kreist drohend über dem Bild von den Kindern, die auf der Straße ihr Spielzeug verkaufen, um Geld für Lebensmittel zu verdienen. Warum ist sie nicht für ihre Kinder da? Warum bleiben die Kinder bei ihr?

Und warum befreien die drei Frauen die Kinder nicht aus der Situation? „Es ist erlaubt, mehrere Sachen gleichzeitig zu fühlen, oder?“, fragt Denise Petra, als diese nicht weiß, ob sie wütend oder glücklich ist. Ein zentraler Satz für „Hort“. Nicht immer ist alles so eindeutig und klar definierbar, wie man es gerne hätte, und die besten Lösungen passen oft in keine Schublade. Klar ist: Marijpol hat mit „Hort“ einen Comic geschaffen, der mindestens ebenso außergewöhnlich und bemerkenswert ist wie seine Protagonistinnen.

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