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Am Rand der Gesellschaft: Eine Szene aus „Niemals“.

© avant

Comic-Drama „Niemals“: Abgrund oder Altersheim

Der Comic „Niemals“ erzählt von einer eigenwilligen Persönlichkeit und behandelt nebenbei Themen wie selbstbestimmtes Sterben und den Klimawandel.

Ein kleines, beschauliches Örtchen an der Küste der Normandie. Außer dem Strand und einer imposanten Steilküste gibt es hier wenig zu sehen. Die 95-jährige Madeleine ist zwar blind, findet aber ohne Mühe mithilfe ihres Stocks den Weg von ihrem Häuschen auf dem Hang zum Fischmarkt, schließlich lebt sie schon Jahrzehnte hier.

Jeder Dorfbewohner kennt die muntere alte Dame. Als sie dem Bürgermeister begegnet, verfliegt aber ihre gute Laune, als dieser ihr vorschlägt, in die Seniorenresidenz umzusiedeln. Ihre Antwort: „Zum Teufel mit Ihnen und Ihrem Todeslager!“

Der 1975 geborene französische Comiczeichner Bruno Duhamel ist hierzulande noch ein Geheimtipp. Bisher erschien einzig der erste Band der von ihm und dem Szenaristen Kris erdachten, humoristischen Science Fiction-Serie „Die Zeitbrigade“ in deutscher Übersetzung (All-Verlag).

In seinem Heimatland ist der produktive Zeichner bereits eine feste Größe. Neben weiteren Serien nach Szenarios anderer Autoren wie der Noir-Krimireihe „Harlem“, einem Kindercomic („Je suis pas petite“) und der Adaption von Balzac-Novellen („Père Goriot“) hat sich Duhamel in den vergangenen Jahren vornehmlich auf das Zeichnen von One-Shots verlagert - Graphic Novels, deren Szenario er selbst schreibt („Le retour“, „Nouveau contact“, „Le voyage d´ Abel“, erschienen bei Grand Angle).

Diese Geschichten zeichnen sich durch pointierte Ideen aus und stellen stets einen „Einzelkämpfer“ in den Mittelpunkt, meist ein grimmiger Einsiedler oder Außenseiter, der in einer bestimmten geografisch begrenzten, ländlichen Region verwurzelt ist. Duhamel hat sichtlich Spaß daran, diese skurrilen wie lebensnahen Charaktere zu zeichnen und vor allem deren Komplexität zu entwickeln.

Die Küste bröckelt, die Spannung steigt

Wie bei Madeleine, der bereits erwähnten 95jährigen, blinden Protagonistin seiner neuen Graphic Novel „Niemals“ (aus dem Französischen von Lilian Pithan, avant-Verlag, 64 S., 20 €), die gar nicht hilfsbedürftig erscheint und zusammen mit ihrem Kater Balthasar an der Steilküste in der Normandie lebt.

Eine weitere Seite aus „Niemals“.
Eine weitere Seite aus „Niemals“.

© avant

Beharrlich weigert sie sich, ihr akut absturzgefährdetes Haus zu verlassen. Nach jedem Sturm wird ihr Garten kleiner und das Haus rückt näher an den Hang. Der verzweifelte Bürgermeister möchte sie deshalb, schon um nicht fahrlässig an ihrem Tod mitschuldig zu werden, ins Altenheim umsiedeln. Doch Madeleine lässt sich nicht gerne entwurzeln.

Im Laufe der Geschichte spitzt sich der Konflikt mit dem Bürgermeister und der Polizei zu. Madeleine erweist sich als äußerst wehrhaft und schreckt auch nicht vor militanten Mitteln zurück, um zu bleiben. Der Grund dafür liegt in ihrer Vergangenheit...

Duhamel zeichnet sein liebevolles Psychogramm mit feinem Humor, der sich in pointierten Dialogen abbildet. Die ausgeklügelte Dramaturgie seiner an sich einfachen Geschichte spiegelt sich in klug komponierten Seitenlayouts wieder, die die Spannungsschraube langsam anziehen.

In der Tradition von „Spirou“ und „Tim und Struppi“

Immer im Blick hat Duhamel auch die subtile Mimik seiner Figuren. Neben der leicht überspitzt dargestellten Titelheldin soll hier der herrliche Sidekick Kater Balthasar hervorgehoben werden, dessen Gemütslage bestens an seinem Gesichtsausdruck wie an der Art seiner Bewegungen abzulesen ist.

Das Titelbild von „Niemals“.
Das Titelbild von „Niemals“.

© avant

Zeichnerisch bedient sich Bruno Duhamel des klassischen Semi-Funny-Stils á la „Spirou“, wie er im franko-belgischen Raum seit Jahrzehnten beliebt ist, mixt etwas Ligne Claire à la Hergé („Tim und Struppi“) dazu und koloriert seine Seiten mit ausgewählten, digital erstellten Pastellfarben.

So gelingt Duhamel das treffende Porträt einer eigenwilligen Persönlichkeit im Kampf gegen das „Establishment“. Sehr behutsam spricht er damit aktuelle gesellschaftliche Debatten an – im Kern geht es dabei um würdevolles wie selbstbestimmtes Sterben, aber auch um den von Menschen verursachten Klimawandel, der dazu beiträgt, dass Küstenregionen immer weiter erodieren.

Doch tut der Zeichner dies auf so beiläufige und leichtfüßige Weise, dass man den vermaledeiten moralischen Zeigefinger nicht zu fürchten braucht und trotzdem im Laufe der Lektüre mehrmals zum Nachdenken angeregt wird.

„Niemals“ tauchte zu Recht in der Liste der Top-10-Titel der vierteljährlichen Comic-Bestenliste von 30 Kritikerinnen und Kritikern des vergangenen Quartals auf. Außerdem wurde sie im Rahmen des Wettbewerbs Francomics (einem Projekt des Deutsch-Französischen Instituts Erlangen, des Institut français Deutschland und des Cornelsen Verlags) 2019/20 von französischen Schülerinnen und Schülern zum Favoriten gewählt.

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