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Taumeln, straucheln: Szene aus „Halbe Wahrheiten“.

© Reprodukt

Autorencomic: Alltägliche Ausnahmesituation

Kürzlich erschien das neue Buch des Independent-Comic-Stars Adrian Tomine. Comiczeichnerin Elke R. Steiner empfiehlt sein bisheriges Werk als Lektüre mit Sogwirkung.

Auf Deutsch sind bisher drei Bücher des Amerikaners Adrian Tomine erschienen: „Echo Avenue“ (1996), „Sommerblond“ (2004) und „Halbe Wahrheiten“ (2008). Ich empfehle, alle drei der Reihe nach zu lesen.

In den schwarz-weißen Comics geht es um heutige, meist  jüngere Menschen in der Stadt. Sie haben einen festem Wohnsitz und oft  einen akademischem Hintergrund. Sie leben ihren Alltag. Unverhofft finden sie sich in Ausnahmesituationen wieder. Nach und nach  entpuppt sich der Alltag selbst als Ausnahmesituation. Scharfgestellte Realität, die mit jedem Buch schärfer wird.

„Echo Avenue“ enthält mehrere, teils sehr kurze Einzelgeschichten. Autofahrten, einsame Kaffeepausen und öde Ferienjobs werden  mühsam ertragen. Die Zeit bleibt stehen. Oder sie rast und endet in unverständlicher Gewalt und Schrecken: „Sieh nicht hin“. In den folgenden Büchern werden die Geschichten länger und breiter. Tomine wendet den Blick nicht mehr  ab.

Bereits in „Sommerblond“ ringen die Hauptpersonen um Beziehungen, Jobs und seelische Stabilität. Gnadenlos zeigt Tomine die ständigen Selbstvorwürfe der Hillary Chan und die hilflose Kontaktsuche des vereinsamten Neil. Die junge Cammie verliert im Alkoholdelirium jede Kontrolle. In der Schule muss sie den anderen Partygästen wieder gegenübertreten. Es gibt kein Ausweichen.

Klarer Blick: Das Cover von „Halbe Wahrheiten“.

© Reprodukt

Nie bin ich klüger als die Protagonisten, und keine von ihnen ist mir richtig sympathisch. Ich bin froh, dass ich nicht in ihrer Haut stecke, aber  das ist nur ein Zufall. So entwickeln die Geschichten einen starken Sog.

In „Halbe Wahrheiten“ ist dieser Sog ganz unwiderstehlich. Auf 108 Seiten erforscht Tomine das Leben des dreißigjährigen Ben Tanaka, Kinoleiter in Berkeley, Kalifornien. Dabei eröffnet er immer neue Schauplätze, auf denen Ben häufig strauchelt. Genervt beim Filmfest, durstig auf der Frauenparty, schlaflos in New York, Ben macht es sich und anderen nicht leicht. Als sein Kino auf Erdbebensicherheit überprüft wird, nehmen die Erschütterungen in seinem Privatleben zu. Bens Vertraute Alice Kim nimmt Anteil und taumelt selbst. Sie ist sein idealer Gegenpart, die Dialoge ein besonderes  Vergnügen.

Die Zeichnungen sind klar und deutlich. In ruhigen Panels und beharrlicher Abfolge berichten sie von jeder Regung, aus nächster Nähe oder mit  Abstand. Ben Tanaka kann sich selbst nicht entfliehen, weder in Berkeley noch in New York, nicht im Kino und schon gar nicht zuhause. Manchmal würde ich es ihm wünschen.

Vom Leben gezeichnet: Tomines aktuelles Buch erzählt von seiner Hochzeit - es liegt bislang noch nicht auf Deutsch vor.

© Drawn & Quarterly

Mehr zu den auf deutsch vorliegenden Bücher von Adrian Tomine auf der Website des Verlages Reprodukt. Mehr zu seinem im Februar auf Englisch erschienenen autobiographischen Buch „Scenes from an Impending Marriage“ – das wir demnächst ausführlicher auf den Tagesspiegel-Comicseiten besprechen - auf Tomines Website. Eine Leseprobe gibt es bei seinem Verlag Drawn & Quarterly.

Unsere Gastautorin, die Comiczeichnerin Elke R. Steiner, lebt in Berlin. Vor kurzem erschien von ihr das BuchRisiken und Nebenwirkungen(Gütersloher Verlagshaus, 80 Seiten, 14,99 Euro) zum Thema Medikamentenmissbrauch. Außerdem hat sie u.a. die Familiengeschichte „Die anderen Mendelssohns“ (Reprodukt) sowie die Kinderbücher „Bella´s Brazilian Football“ und „Bella´s Chocolate Surprise“ (Milet Publishing) gezeichnet. Ihre Website: www.steinercomix.de. Weitere Comic-Empfehlungen von ihr unter diesem Link.

 

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