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Romancier, Essayist, Literaturwissenschaftler – und glühender Europäer. Claudio Magris.

© imago/Leemage

Claudio Magris wird 80: Im Bauch einer Kopfgeburt

Triest als europäischer Palimpsest: Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Claudio Magris.

Von Gregor Dotzauer

Triest ist für ihn eine Art Schicksal. Ein schwarzes Loch der Geschichte, dessen Absorptionskräfte zermürbend wirken können, aber auch eine Gemengelage, deren Energien erfrischend wirken. Claudio Magris hat die Hafenstadt an der Adria, in der er 1939 geboren wurde, zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens auf beide Weisen erlebt: als schlecht durchlüftete „Abstellkammer der Zeit“ – und als intellektuellen Geräteschuppen eines Europa, dessen Werkzeuge nur darauf warten, auch von anderen Regionen in die Hand genommen zu werden.

Zwischen dem multikulturellen Schlendrian der Donaumonarchie, der Zwangsitalianisierung unter Mussolini, Reibereien mit dem unmittelbar benachbarten Slowenien und dem jüngsten Zustrom von Migranten hat sich im Guten wie im Schlechten ein fast unerschöpfliches Reservoir an Erfahrungen für ein Miteinander und friedliches Nebeneinander der Kulturen angesammelt.

Wenn sich Claudio Magris zum Schreiben an seinen Stammplatz in die weitläufige Herrlichkeit des 1914 begründeten Caffè San Marco in der Via Cesare Battisti begibt, haushaltet er indes nicht nur mit dem, was ihm vor der eigenen Tür zugefallen ist. Er hat sich seinen Kosmopolitismus auch als Reisender erkämpft und früh nach entlegeneren Inspirationen gesucht.

Der Germanist, der als 14-Jähriger auf dem Gymnasium dem „Nibelungenlied“ begegnete, mit 24 Jahren über den „habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur“ promovierte und bis zu seiner Emeritierung 2006 moderne deutschsprachige Literatur lehrte, fand sie zunächst im sehr viel urbaneren Turin. Dort studierte er und entdeckte während seiner Auslandssemester in Freiburg eine zweite, von Schwarzwälder Schinkenduft und badischem Wein geprägte Heimat. Auch nach seiner ersten Professur in Turin gab er ihrem Ruf so oft wie möglich nach und berauschte sich an einem Breisgauer Flair, das bald von einer Passion für München ergänzt wurde. Die nationalsozialistische Besatzung der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ hatte seiner Zuneigung nichts anhaben können, zumal er von seinem jüdischen Deutschlehrer auf die ganze Breite der deutschen Kultur gestoßen worden war.

Biografie eines Flusses

Wie man den Kontingenzen des mitteleuropäischen Lebens einen Sinn abgewinnt, hat er in seinem berühmtesten Buch „Donau – Biografie eines Flusses“ (1986) eindrucksvoll gezeigt. In einer Mischung aus Reportage, kultur- und geistesgeschichtlicher Abhandlung und literarischem Essay folgt er dabei dem 2857 Kilometer langen Fluss von der Quelle in Donaueschingen bis ins rumänische Mündungsdelta.

Im Verlauf dieser abschweifungsreichen Bildungsreise entsteht ein Stück jener sonst oft vergeblich eingeklagten verbindenden Erzählung eines Europa, das aus seiner Heterogenität gerade in Zeiten wachsender Kleinstaaterei keine falschen Homogenitätsschlüsse zieht. 2009 erhielt er nicht zuletzt für diese aus der Vergangenheit in die Zukunft weisende Vision mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die höchste Auszeichnung seiner an Preisen reichen Karriere.

Seitdem ist viel Wasser die Donau hinabgeflossen und sein vielgestaltiges belletristisches und publizistisches Werk noch einmal beträchtlich gewachsen. Zu seinem 80. Geburtstag am heutigen Mittwoch, den er in ungebrochener geistiger Vitalität begeht, erscheint im Hanser Verlag drei Jahre nach dem italienischen Original ein Band unter dem Titel „Schnappschüsse“ (Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend, 191 S., 20 €). Es handelt sich um knapp 50 im Lauf der Jahre zusammengekommene Prosaminiaturen: Beobachtungen des weltreisenden Intellektuellen zwischen Istanbul, Varanasi und Stockholm, Randnotizen aus den Lücken des Triester Alltags, moralische Betrachtungen des Zeitungslesers.

Spott für einen Weltenlenker

So unscheinbar und offenbar schnell geschrieben die Texte sind, zeigen sie doch etwas vom physiognomischen Blick des Schriftstellers. Sie lenken den Blick auf Irritationen und Anomalien, die vielleicht nicht jeder auf Anhieb erkennt. Von lebensklugem Witz sind insbesondere die Schlaglichter auf das Miteinander von Paaren, das ihn besonders zu beschäftigen scheint. Darunter ist etwa ein Kommentar zur Trennung des Deutsche-Bank-Managers Hilmar Kopper von seiner langjährigen Frau zugunsten von Brigitte Seebacher-Brandt. Claudio Magris bedauert den Weltenlenker, der im Ehealltag offenbar nicht einmal über seine Abendessenszeiten verfügen durfte, mit einem Sarkasmus, der Kopper ein für alle Mal aus seinem Himmel holt.

In einer Taschenbuchausgabe ist überdies gerade Magris’ jüngster Roman „Verfahren eingestellt“ (dtv, 400 Seiten, 12,90 €) erschienen. Er führt zurück in die konfliktreiche Vergangenheit von Triest und begibt sich auf die Spur des pazifistischen Exzentrikers Diego de Henrique. 1974 verbrannte er zusammen mit einem großen Teil seiner Militaria-Sammlung, deren Reste noch im „Civico Museo di Guerra per la Pace Diego de Henriquez“ zu sehen sind.

Bei Magris versucht die fiktive Kustodin Luisa, Tochter einer italienischen Jüdin und eines afroamerikanischen GI, die Sammlung dieses „Vollständigen Museums des Krieges für die Ankunft des Friedens und die Entschärfung der Geschichte“ aus Notizen zu rekonstruieren. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Risiera di San Sabba, das einzige deutsche Konzentrationslager auf italienischem Boden, das es gab. Heute ist die Reismühle eine Gedenkstätte. Das verbrauchte Wort vom Palimpsest, dem Gérard Genette einst seine literaturtheoretische Bedeutung gab, erfährt in den Erzählschichtungen dieses Romans noch einmal seine praktische Rechtfertigung.

Magris ist der letzte große Nachfahr einer Triestiner Moderne, die mit der Klarheit von Umberto Saba, der melancholischen Ironie von Italo Svevo und der Simultanitätskunst des Interims-Triestiners James Joyce die europäische Literatur prägte. Gut zu wissen, dass man sich um ihre Wirkmächtigkeit auch im 21. Jahrhundert keine Sorgen machen muss.

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