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Charlotte Gneuß, Autorin, bei einem Fototermin am Longlist-Abend des Deutschen Buchpreises 2023.

© picture alliance/dpa/Christian Charisius

Charlotte Gneuß’ Roman „Gittersee“: Nicht ohne meinen Turm

Nominiert für die Longlist des Deutschen Buchpreises und mit seinem krimireifen Plot auch zu Recht: Der in den siebziger Jahren angesiedelte Roman einer Autorin, die 1992 in Ludwigsburg geboren wurde.

Von Philipp Haibach

Eine Romanfigur errichtet sich in der Telefonzelle den „üblichen Münzturm“, um die Groschen nach und nach in den Schlitz zu werfen. Dramaturgisch gesehen ist das ein schönes, atmosphärisches Bild. Hat etwas von einem Schwarz-Weiß-Film über die Zeiten des Kalten Krieges. Allerdings brauchte man im ehemaligen West-Berlin nur zwei Groschen. Man konnte ein Ortsgespräch endlos führen, bis das ungeduldige Klopfen an der Scheibe unerträglich wurde.

Eine von vielen Besonderheiten, die diese Stadt von „Westdeutschland“, wie die Berliner den Rest der Republik nannten, unterschied. Der Suhrkamp-Verlag bedankte sich seinerzeit höflich für diesen, vielleicht gar nicht einmal sachdienlichen Hinweis. Stephan Thome, 1972 im hessischen Biedenkopf geboren und Autor des Romans „Gegenspiel“ aus dem Jahr 2015, schwieg dazu und dachte sich bestimmt: Was für ein Korinthenkacker doch dieser Journalist ist. Wegen so einer Lappalie eine E-Mail rausschicken! 

Nun hingegen ziehen Fragen, ähnlich wie die obige „Kreise im Literaturbetrieb“, wie sich die „FAZ“ ausdrückt. Es geht um das Romandebüt der 31-jährigen Charlotte Gneuß, im westdeutschen Ludwigsburg geboren. Es spielt in den 70er-Jahren und handelt von einer 16-Jährigen in der DDR, die in Dresden in die schmierigen Fänge eines Stasi-Mitarbeiters gerät. Ohne die Erinnerungen und Erzählungen, die ihre Familie ihr anvertraut hätten, wäre dieser Text nicht denkbar gewesen, schreibt Charlotte Gneuß am Ende des Buches. 

Im Detail nicht stimmig

Dass diese Erinnerungen im Detail trügen und vielleicht nicht gewissenhaft nachrecherchiert wurden, ist ihr nun von prominenter Stelle nachgewiesen worden. Ihr Verlagskollege, der bekannte S. Fischer-Autor Ingo Schulze („Simple Storys“) hat eine Mängelliste zu Gneuß’ Roman erstellt, die der „FAZ“ vorliegt. Sie ging auch an die diesjährige Jury des Deutschen Buchpreises.

Diese hält den Roman für preiswürdig, was die Sache nach einem kleinen Skandal aussehen lässt. Ein Beispiel: So wurden laut Schulze keine Lieder für die „Jahresendfeier“ geübt, wie es im Westen angeblich immer hieß, sondern für die „Weihnachtsfeier“. Die ganze Debatte, wenn man sie als solche bezeichnen möchte, dreht sich, kurz gesagt, um kulturelle Aneignung. Darf eine Schriftstellerin, die nie in der DDR gelebt hat, über diese schreiben? Darf ein Hesse über West-Berlin schreiben, das er nur vom Schulausflug kennt?

Natürlich. Ingo Schulze versuchte an diesem Montag in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ in der Sache zu beschwichtigen. „Ich würde immer dafür eintreten, dass jede und jeder jederzeit und überall über alles schreiben darf. Deshalb gibt es ja Literatur. Andererseits ist der Osten oft eine Verfügungsmasse, derer man sich für die eigenen Geschichten bedient, was in aller Regel klischeehaft wird“. Er fügte hinzu: „Damit meine ich jetzt nicht ‚Gittersee‘“. 

Wie plausibel ist der Roman?

Wo wir endlich beim Roman und bei der Frage wären, ob er – ungeachtet von Detailfragen – plausibel ist. Ob er glaubhaft eine Geschichte erzählt, die von der Verführung Jugendlicher in einer Diktatur handelt. Ob die Atmosphäre sich auf die Leserinnen und Leser überträgt und nicht so wirkt wie das Zusammenstellen von Requisiten in einer belanglosen TV-Produktion. 

Die Ich-Erzählerin Karin erzählt im Rückblick im Duktus einer 16-Jährigen. Sie guckt etwa nach der kleinen Schwester und „die schlief noch feste“. Ihren Freund Paul küsst sie auf den Mund „und dachte, was ist er schön“. 

Dagegen hat Karin ein eigenartiges Faible für ein mit Metaphern aufgeladenes Beschreiben des Wetters als spräche sie mit den Worten einer erwachsenen Autorin (was wiederum unglaubwürdig wirkt): „Nebel über den Tälern, Tau auf den Gräsern, die Welt ganz unschuldig und leer“, weniger originell: „Es hatte geregnet, die Tropfen lagen wie Quecksilber auf den Blättern zusammengerollt“.

Die wahre Mängelliste

Vielleicht hätte dies dringlicher auf eine Mängelliste gepasst. Aber selbst diese Einwände perlen an der Qualität dieses Buches ab wie Quecksilber. Denn Gneuß hat ein spannendes, lehrreiches Buch über eine Jugend in der DDR geschrieben.

Es setzt ein mit einem Draht, der straff zwischen zwei Buchen gespannt ist. Jemand ist mit dem Motorrad darüber gestürzt. Dann wird zur Liebesgeschichte zwischen Karin und Paul gezoomt, der kurz darauf „Republikflucht“ begeht. War wäre passiert, hätte sie sich Paul und dem gemeinsamen Freund Rühl für einen Kurztrip nach Tschechien angeschlossen? Dann wäre es vermutlich nicht zu der folgenschweren Begegnung mit dem manipulativen Wickwalz von der Stasi gekommen.

„Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“ Sie wird zum Spitzel. Kein Geheimnis ist, dass Gneuß’ Buch mit einem krimireifen Plot-Twist eine plausible Kandidatin für die Shortlist des Deutschen Buchpreises wäre, die am Dienstag verkündet wird.

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