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"Leto" von Kirill Serebrennikow über die Underground-Rockszene im Leningrad der achtziger Jahre.

© Cannes Festival

Cannes-Tagebuch (2): Am zweiten Tag wird Cannes politisch

Kontroverses beim Filmfestival: das Jugend-Porträt "Leto" des in Russland unter Hausarrest stehenden Regisseurs Kirill Serebrennikow und der in Kenia verbotene Liebesfilm "Rafiki"

Von Andreas Busche

Auftritte auf dem roten Teppich von Cannes gehören für jeden Regisseur und jede Regisseurin zu den Karriere-Höhepunkten. Umso auffälliger, wenn einmal ein Platz bei der Gala-Premiere im Grand Théâtre Lumière leer bleibt, wie es am Mittwochabend der Fall war. Der seit August vergangenen Jahres unter Hausarrest stehende russische Filmemacher und Opernregisseur Kirill Serebrennikow konnte nicht zur Premiere seines Films „Leto“ (Summer) nach Cannes reisen, trotz eines offiziellen Gesuchs von Festivalchef Thierry Frémaux an Wladimir Putin. Die Antwort aus dem Kreml fiel denkbar knapp aus, wie das Festival auf der Pressekonferenz verkündete: Man könne an der Situation Serebrennikows nichts ändern, da die russische Justiz unabhängig von der Politik arbeite.
Serebrennikow ist voraussichtlich nicht der einzige eingeladene Filmemacher, der in diesem Jahr notgedrungen nicht nach Cannes kommen kann: Auch das Ausreiseverbot für den iranischen Regisseur Jafar Panahi hat weiterhin Gültigkeit. Zwar tauchte Panahi ("Taxi Teheran") in den vergangenen Jahren gelegentlich im Ausland auf, die Bürokratie des iranischen Regimes arbeitet erratisch. Aber groß ist die Hoffnung seitens des Festivals nicht, nachdem Panahis letzter Film an der Croisette es 2011 nur auf einem geschmuggelten Harddrive nach Cannes geschafft hatte.

"Leto" erzählt vom Beginn der russischen Jugendkultur in den 80ern

„Leto“ wird jedoch nicht nur aus Solidarität mit dem in Moskau drangsalierten Serebrennikow euphorisch aufgenommen. Sein historischer Film über die Anfänge der russischen Jugendkultur zu Beginn der achtziger Jahre in Leningrad besitzt trotz der aktuellen politischen Bürde eine Leichtigkeit, in der eine unterschwellige Sentimentalität genauso mitschwingt wie die ungestüme Energie des Punk, die schon Serebrennikows letzten Film „Der die Zeichen liest“ auszeichnete. Von dieser bösen Abrechnung mit dem aufkeimenden religiösen Fundamentalismus unter Putin unterscheidet sich der Musikfilm „Leto“ aber sowohl in der Form wie auch im Tonfall.

Gedreht in geschmackvollem Schwarz-Weiβ, unterlegt mit Rock-Klassikern, die auβerhalb Russlands vermutlich niemand kennt, und immer wieder unterbrochen von Punk-Musical-Einlagen („Psychokiller“ von den Talking Heads, Iggy Pops „The Passenger“), rekreiert Serebrennikow ein Zeitbild der russischen Jugend zwischen Revolte und dem Leben in einem totalitären Staat. Dieser ist darum bemüht, den jugendlichen Elan in systemkonforme Bahnen zu lenken.

„Leto“ erzählt die wahre Geschichte das koreanisch-stämmigen, viel zu früh verstorbenen Viktor Tsoi, der für die russische Rockmusik der achtziger Jahre eine Art Kurt Cobain war. Serebrennikow, der 2017 kurz vor Ende der Dreharbeiten verhaftet wurde, erzählt dessen Aufstieg als ménage à trois zwischen dem jungen Tsoi, seinem Mentor Mike und dessen Freundin Natasha, auf deren Memoiren der Film basiert.

Kritische Stimmen werden in Russland von der Justiz mundtot gemacht

„Leto“ ist gemessen am Vorgänger erstaunlich zahm, die russische Rockrevolution der achtziger Jahre erscheint im Film weitgehend unpolitisch. Die Kulturfunktionärin entpuppt sich sogar als größter Fan von Mike und Viktor – ein Umstand, den Serebrennikow bei aller Nostalgie durchaus kritisiert, wenn er eine Erzähler-Figur einführt, die immer wieder wie ein deus ex machina im Film auftaucht und den Punk das Systemfeinds beschwört. Die Musical-Einlagen, die auch schon mal einen ganzen Zug kapern, sind von der retroseligen Low-Fi-Videoästhetik der frühen MTV-Jahre geprägt. Momentan ist der Start von „Leto“ in Russland für Juli angesetzt, Sony soll ihn in die Kinos bringen. Noch allerdings hat Wladimir Putin den Film noch nicht inspiziert.

Interessant ist „Leto“ übrigens auch in Bezug auf Sergei Loznitsas brachial humorlosen Ukraine-Film „Donbass“. In seiner Heimat wird Serebrennikow Betrug und Unterschlagung vorgeworfen.

Die wahren Hintergründe sind schwer durchschaubar, aber unbestritten ist, dass solche Anschuldigungen unter Putin inzwischen eine bewährte Methode sind, um unliebsame Personen mundtot zu machen. Serebrennikow hat sich in seiner Funktion als künstlerischer Leiter des Gogol Zentrums als eine der führenden kritischen Stimmen in der russischen Kulturlandschaft etabliert. Wenn in einer Episode in „Donbass“ also eine Politikerin einem Kollegen einen Kübel Jauche über den Kopf kippt, weil dieser Korruptionsvorwürfe über sie verbreitet habe, stellt sich eine unsichtbare Verbindung von Loznitsas unversöhnlichem Film zu dem eher sentimentalen Jugend-Porträt „Leto“ ein.

Eine lesbische Liebesgeschichte in der homophoben Gesellschaft Kenias

Ein Jugendfilm, der in seinem Herkunftsland für Wirbel gesorgt hat, läuft in der Reihe „Un certain regard“: „Rafiki“ (Freund) ist das Debüt der kenianischen Regisseurin Wanuri Kahiu – und der erste Film aus Kenia überhaupt, der in Cannes läuft. Kahiu hat ein großes Risiko auf sich genommen, um nach Cannes zu reisen, in seinem Heimatland ist „Rafiki“ aufgrund seiner Thematik bereits verboten. Ihr Film erzählt von der Liebe zwischen der schüchternen Kena (Samantha Muatsia) und der extrovertierten Zika (Sheila Munyiva), Töchter von zwei Lokalpolitikern, die sich gerade im Wahlkampf befinden.

Eine lesbische Liebesgeschichte: Szene aus "Rafiki", dem ersten kenianischen Film in Cannes überhaupt.
Eine lesbische Liebesgeschichte: Szene aus "Rafiki", dem ersten kenianischen Film in Cannes überhaupt.

© Cannes Festival

Schön, mit welcher Selbstverständlichkeit Kahiu ihre Teenager-Romanze erzählt: kein vorsichtiges Herantasten, kein umständliches Coming-of-Age, sondern ein unvermittelter Sprung in die Gefühlswelten – vor dem Hintergrund einer homophoben Gesellschaft.

Der Film straft auch all diejenigen Lügen, die immer noch behaupten, dass Diversität nur strukturelle Kosmetik bedeutet. „Rafiki“ zeigt, dass sie eine eigenständige ästhetische Kategorie darstellen kann, wie die Kinobilder sich vom eruopäischen Blick und vom Stigma der Exotisierung befreien können.

Kahius Hauptdarstellerinnen Muatsia und Munyiva bewegen sich mit elektrisierender Anmut durch die Straßen und die nächtlichen Partys. Munyivas bunte Dreadlocks, die pumpenden Bässe des Soundtracks, die leidenschaftlichen, impulsiven Berührungen der Mädchen: „Rafiki“ platzt in nahezu jeder Szene vor Leben. Da erscheint es fast schon nebensächlich, das Kahiu einige Kitschmomente unterlaufen. Aber die ernsthafte Naivität, mit der die Regisseurin diese Teenagerliebe erzählt, sorgt für eine willkommene Abwechslung im etablierten Autorenkino. Nicht zuletzt unterstreicht „Rafiki“ eine Erfahrung, die im Westen auf wachsenden Widerstand stößt: Identitätspolitik ist immer politisch, solange das Selbstbestimmungsrecht der Menschen eingeschränkt ist.

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