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Stimmenvielfalt. Der scheidende Chefdirigent spannt den musikalischen Bogen an diesem Abend von Monteverdi bis Paul Lincke.

© Jens Büttner/dpa

Abschiedskonzert in der Waldbühne: Bye, bye, Sir Simon

Saisonabschluss mit Rattle-Finale: Beim Waldbühnenkonzert der Philharmoniker verblüfft Sir Simon mit intimen Tönen mitten im Unterhaltungsprogramm.

So viele Arten, den Regen zu besiegen. Bei ihrem Waldbühnenkonzert zum Saisonabschluss hatten die Philharmoniker oft Pech in diesem Jahrzehnt, vom Komplettausfall wegen Sturmwarnung 2011 über dauerregennasse oder schwarzwolkenverhangene Abende (2012, 2016) bis zum Sturmtief Rasmund 2017. Zum Rattle-Abschied, dem wirklich allerletzten Konzert mit Chefdirigent Sir Simon, lässt der Wettergott am Sonntagabend Gnade walten, wahrt zunächst die Tradition mit diversen Niesel- und Sprühvarianten, um sich kurz vor der Pause besänftigen zu lassen. Magdalena Kožená singt eine zauberische Berceuse aus Joseph Canteloubes „Chants d’Auvergne“, wagt sich bis ins Pianissimo mit haarfeinem, fast brüchigem Vibrato - der Klassiker: Mama schläft selber ein, als sie ihr Kind wiegt. Und der Regen legt sich gleich mit.

Schmissige Synkopen mit Salsa-Würze bei George Gershwins „Cuban Ouvertüre“, Chatschaturjans „Säbeltanz“, Elgars „Pomp und Circumstance“ als ironischer Marsch und kleines Anti-Brexit-Statement mit weißlockigen Rattle-Perücken auf den Häuptern der Blechbläser und, klar, die „Berliner Luft“ zum guten Schluss. „Same procedure“, ruft Rattle vom Podium, „as every year“, ruft das Publikum zurück. Noch einmal gibt Sir Simon den Entertainer, schenkt den Berlinern Laune, Leichtigkeit, Lebensfreude. Und schlägt doch auch andere Töne an, animiert die Philharmoniker zu Wehmut, Innigkeit, zu sehr persönlichen Momenten.

Zum Wohl. Sir Simon Rattle genießt seinen Abschied mit einer Erfrischung.
Zum Wohl. Sir Simon Rattle genießt seinen Abschied mit einer Erfrischung.

© Jens Büttner/dpa

Wenzel Fuchs’ Klarinette schickt bei Gabriel Faurés „Pavane“ eine gedankenverlorene Kantilene ins Waldbühnenrund, Soloflötist Mathieu Dufour träumt weiter zu Cello-Pizzicati, und vor allem Magdalena Kožená beweist bei Canteloubes Arrangements von okzitanischen Volksliedern endgültig, dass die Waldbühne nicht zu groß ist für Augenblicke der Intimität. Ihr lyrischer Mezzosopran, ihr Schmelz, ihre Süße, ihre Koketterie, ihre hochnuancierte Diktion bezwingt mühelos die Witterung und die Tücken der Open-Air-Akustik. Ganz still wird es da in der Arena. Die ganze Waldbühne eine Pastorale, mit Schäferstündchen, Sehnsuchtsseufzern hinüber zur anderen Seite des Flusses, einem kecken Kuckuck oder auch dem Lamento einer Verlassenen. Später folgt ein weiteres Lamento: Bei der ersten von vier Zugaben, Monteverdis melancholischer Liebesleidklage „Si dolce è il tormento“, begleitet Koženás Ehemann Simon sie kurzerhand persönlich am Cembalo.

Seine letzten In-door-Konzerte in der Philharmonie hatte Rattle vergangene Woche mit Mahlers Sechster bestritten: Katastrophenmusik für eine katastrophische Zeit, mit apokalyptischer Schärfe und atemberaubender Sinnlichkeit. In der Waldbühne fügt er die andere Hälfte seiner Botschaft an die Musikstadt Berlin noch einmal hinzu: keine Angst vor Unterhaltung, keine Angst vor dem Sentiment, vor der Grenze zum Kitsch. Klassik ist beides, wenn man es nur aufrichtig mit ihr meint, irdisch und überirdisch, Naturidyll und Kriegserklärung, Eskapismus und Eschatologie, Trauer und Trost, die unbestechliche Analyse der Gegenwart, aber eben auch ein Mittel, um sie besser zu ertragen. 16 Jahre Rattle in Berlin, das war die Öffnung der Philharmonie, Lunchkonzerte, „Rhythm is it!“ und die Digital Concert Hall, die Entgrenzung des Repertoires. Aber es war auch die Arbeit am Klang, von Mozart bis Bruckner, die Verteidigung des Individuums, der Zärtlichkeit, der Stimmenvielfalt. Vielleicht spannt er deshalb an diesem letzten Abend den Bogen so weit, von Monteverdi bis Paul Lincke, von Lamento bis Tschingderassabum. Und legt zur Berliner Luft den Taktstock hin, genehmigt sich ein Bierchen und ein Bad in der Musikermenge, um zuletzt persönlich auf die Pauke zu hauen. Auch Schlagzeug hat Rattle in jungen Jahren ja mal gelernt.

Trotz trübem Himmel und Regen. Die Waldbühne ist voll und das Publikum spendet reichlich Applaus.
Trotz trübem Himmel und Regen. Die Waldbühne ist voll und das Publikum spendet reichlich Applaus.

© Jens Büttner/dpa

„Mein wunderbares Orchester. Mein wunderbares Publikum“, hatte er letzte Woche in der Philharmonie gesagt. Das Waldbühnen-Publikum dankt ihm seine Zuneigung. Es lässt sich vom miesen Wetter nicht abhalten, sämtliche feuchten Bänke zu füllen, trotzt dem trüben Himmel mit bunten Regenklamotten, trinkt Rotwein aus Pet-Flaschen und spendet beim Großstadt-Getümmel in Ottorino Respighis „Pini di Roma“ auch mal Szenenapplaus. Magische Momente? Aber ja. Kommt die berühmte Nachtigall in den „Pini di Roma“ wirklich von Band oder ist’s nicht doch ein echtes Waldvögelein, das sich von der Klarinette aus dem Nest locken lässt?

Was ist hier Ursache, was Wirkung? Wenn sich im Finalsatz der symphonischen Dichtung die Morgennebel über der Via Appia lichten und die Philharmoniker die Waldbühne furchtlos mit Triumphmusik fluten, beginnt auch das Flutlicht in der Waldbühne, die Nacht zu vertreiben. Musik ist ganz von dieser Welt und hebt sie doch aus den Angeln - das bleibt von der Ära Rattle. Er kommt ja wieder, schon bald.

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