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Neukölln: Oper fürs Volk

In Berlin steckt nur ein Musiktheaterhaus nicht in der Krise, die Neuköllner Oper. Wie macht sie das? Auf jeden Fall lässt sich von ihr lernen.

Wie viele Opernhäuser gibt es in Berlin? Dem Kultursenator und Regierenden Bürgermeister zufolge sind es definitiv vier: die drei Staatstheater – und die Neuköllner Oper. Zwar trägt das Haus an der Karl-Marx-Straße wenig zum aktuellen Theater um Leitungsposten, Profile und Zuwendungen bei, das die Häuser der Opernstiftung aufführen. Doch wer gute Nachrichten aus der Opernwelt braucht und sanften Reformdruck aufbauen will, lenkt den Blick nach Neukölln.

Dort macht das Direktionsteam um den Künstlerischen Leiter Bernhard Glocksin gerade seine Hausaufgaben. Dass man von Politikern aller Couleur geliebt wird (auch die Ex-Kultursenatoren Christoph Stölzl und Adrienne Goehler machen sich für das Haus stark) und mittlerweile auf eine 32-jährige Geschichte zurückblicken kann, entbindet die Neuköllner nicht von der Pflicht, die Existenzberechtigung alle vier Jahre neu nachzuweisen. Die Konzeptförderung des Senats reicht bis 2010, danach werden die Karten neu gemischt. Während sich das Haus für die Zukunft rüstet, stellt sich die Frage, ob sich aus seinem Erfolg nicht Wege aus der Opernkrise ableiten lassen. Denn auch wenn man hier jährlich bis zu elf Produktionen für nur 903 500 Euro stemmt, ist es nicht die Armut allein, die das Haus sexy erscheinen lässt.

Lernen ließe sich von der Neuköllner Oper sicher, wie man geschmeidige Personalentscheidungen bewerkstelligt. Schon 1996 hatte NO-Gründer Winfried Radeke mit Peter Lund einen der besten Musicalautoren des Landes und auch ein gewichtiges Intendantentalent ins Boot geholt: Die Neuköllner Oper verdoppelte die Zahl ihrer Premieren und etablierte sich als Kultstätte einer deutschlandweit einzigartigen Form sozialkritischen Musicals. Radekes Idee einer Volksoper wurde dabei keineswegs an den Rand gedrängt: Die vielfältigen musikdramatischen Experimente der Gründerzeit, die von Opernausgrabungen und -bearbeitungen bis zu Neukompositionen reichten, gewannen ebenso an Biss, wie sie das Musical beeinflussten. Der Wechsel von Peter Lund an die UdK und die Übernahme der künstlerischen Leitung durch Bernhard Glocksin 2004 beschädigte die Neuköllner Oper nicht. Sie bescherte den Musicalstudenten der UdK vielmehr die Möglichkeit, an mit dem Haus koproduzierten Erfolgsmusicals wie „Kauf Dir ein Kind“, oder aktuell „Leben ohne Chris“ aufzutreten. Nach Radekes Pensionierung 2007 entwickelte das Direktionsteam um Bernhard Glocksin das Konzept eines undogmatischen Autoren- und Uraufführungstheaters weiter. Der aufmerksame Netzwerker erhöhte sogar die Vielfalt der am Hause gesprochenen ästhetischen und musikalischen Sprachen und konnte auch Anhänger der Marthaler- und Castorf-Ästhetik zur Auseinandersetzung mit der „Neuköllner Dramaturgie“ motivieren. Inzwischen kommen sogar arrivierte Komponisten der Neuen Musik wie Jan Müller-Wieland auf das Haus zu: Er wird hier im August die in Neukölln spielende Oper „Fanny und Schraube“ herausbringen.

Besonders entschieden setzt sich Glocksin dafür ein, die Klassiker des Musiktheaters in oft radikalen Bearbeitungen neu zu hinterfragen: Von Bizets Perlenfischern in Lounge-Atmosphäre bis hin zu einer Bohème mit Senioren reicht das Spektrum des Ansätze. „Man muss das Material anfassen dürfen“, lautet Glocksins Credo: Dass sich ein Musiktheater weiterentwickeln könne, bei dem die Regie alle Freiheiten zeitgenössischen Ausdrucks hat, aber das musikalische Material unter Museumsglas gepackt wird, kann er sich nicht vorstellen.

Als Musiktheater für „populäre Avantgarde“ hat die Neuköllner Oper dabei nie den Anspruch aufgegeben, unmittelbar vom Leben zu erzählen. „Die Leute wählen immer gezielter aus, wohin sie gehen, und wir sind immer dann besonders gefragt, wenn es um bestimmte Themen geht“, sagt Direktoriumsmitglied Andreas Altenhof: „Unsere Stars sind die Themen.“ So drängte sich denn bei „Referentinnen“, einem Stück aus der Deutschland-Trilogie des Ensembles „leitundlause“, plötzlich Publikum aus der Parallelwelt der Bundesbehörden. Eine andere Welt, die bisher im Musiktheater kaum präsent war, hat man sich mit „Türkisch für Liebhaber“ der beiden Deutschtürkinnen Dilek Güngör und und Sinem Altan erschlossen.

Doch auch wenn die Neuköllner Oper konzeptionell für die Zukunft bestens vorbereitet scheint, profitieren die Künstler nur wenig vom Erfolg. Mit 80 Euro Abendgage bleibt man das Haus für die Generation Praktikum des Opernbetriebs: unersetzlich, aber unterbezahlt und mit nur geringen Chancen, bestehende Strukturen zu verändern. Hoffnung macht immerhin, dass sich die Szene der kleinen Häuser europaweit vernetzt. So erhält die Neuköllner Oper nicht nur zunehmend Gastspieleinladungen und Anfragen aus dem Ausland, sondern plant auch, ab 2010 unter dem Titel „OpenOP“ selbst ein internationales Festival für vergleichbare Musiktheater-Modelle zu veranstalten. Spätestens dann wird man in der Opernstiftung wohl verstohlen damit beginnen müssen, bei den Neuköllnern abzuschreiben.

Aktuelle Produktionen: „Leben ohne Chris“, Musical von Peter Lund und Thomas Zaufke, bis 15. Mai, „Pelléas & Mélisande“ (Oper von Claude Debussy in einer Fassung von Miriam Salevic und Emily Laumanns), bis 13. Mai.

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