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"Context: Anästhesie der Gefühle": Auch Socken wollen Sex

Wachen und Schlafen: Das Tanzfestival "Context: Anästhesie der Gefühle" im Berliner Hebbel am Ufer.

Von Sandra Luzina

Hellwach, ja hellsichtig möchte man doch eigentlich aus dem Theater kommen – und nicht betäubt. „Anästhesie der Gefühle“, der Titel des Tanzfestivals „Context“ im Hebbel am Ufer, jagt einem deshalb erst mal einen Schauer über den Rücken. Die Kuratorin Pirkko Husemann bezieht sich mit dem Motto auf die Diagnosen des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek und des Wiener Kulturwissenschaftlers Robert Pfaller, die sich beide mit einer Begleiterscheinung der Medialisierung beschäftigt haben.

Mit „Interpassivität“ – einem Begriff, der schon durch die jüngsten Stücke von René Pollesch geistert – bezeichnen sie das Delegieren von Gefühlen an andere – was psychologisch betrachtet eine Flucht vor den eigenen Empfindungen darstellt. Hier kommen die Künstler ins Spiel. Pollesch hat ja bereits den launigen Vorschlag unterbreitet, das Fühlen doch besser gleich den Schauspielern auf der Bühne zu überlassen.

Wie steht es also um unser individuelles und kollektives Gefühlsleben? Wird den Emotionen zur Zeit eine besondere Aufmerksamkeit zuteil – oder haben wir es vielmehr mit einer Verdrängung und Tabuisierung von Gefühlen zu tun? Diesen Fragen will das Context-Festival nachgehen, in Theorie und künstlerischer Praxis. Das Programm umfasst Tanz, Performances, Workshops sowie die Vortragsreihe „Tell it to my heart“, bei der zum Beispiel Robert Pfaller über „Kunst und Liebe. Konjunkturschwankungen der Alterität“ sprechen wird.

Ein besonderer Augenmerk liegt selbstverständlich – so betonte Pirkko Husemann in ihrer Eröffnungsrede – auf dem Theater und seinen durchaus reflektierten Strategien der Affekterzeugung und -manipulation. Wer sich für den anspruchsvollen Themenkomplex – und Gefühle sind ein komplexes Phänomen – schon erwärmen wollte, wurde von dem Eröffnungsstück gleich wieder demotiviert. Bei „Sweet Dreams Are Made“ von Simone Aughterlony und Isabelle Schad handelt es sich um einen krassen Fall von Schlafhaubentheater. Nach der Aufführung bekannten Zuschauer, dass sie nun plötzlich auch den Titel „Anästhesie der Gefühle“ verstünden – soll heißen: Sie haben nichts gefühlt!

„Sweet Dreams Are Made“ will von der verrückten Welt der Träume erzählen, behauptet sogar eine geheime Verwandschaft von Bühne und Traum. Doch wie die sechs Performer herumwuseln und sich unter einem blauen Tuch verbergen, ist einfach nur wirr. Anfangs werden sie herumgeschleudert von einem akustischen Sturm. Kaum haben sie sich die hellen Sommerkleider vom Leib gerissen, müssen sie dann ständig Mund und Augen aufreißen und zu Boden sinken, sich umgruppieren zu Empathie-Skulpturen. Später beginnen sie, zu schnarchen und zu sägen, sie hoppeln, trippeln oder taumeln über die Bühne, gackern wie die Hühner – die Albernheit kennt keine Grenzen.

Ein als Magier angekündigter Mann doziert über eine Socke mit Löchern und über die Frage: „Do socks have sex?“ „Sweet Dreams Are Made“ sträubt sich gegen jede Art von Bühnenmagie, doch hier gibt es nichts, was entzaubert werden müsste. Vorgänge und Texte bleiben in der platten Banalität stecken. „Was du siehst, ist exakt, was du siehst.“ Hinter solchen Tautologien verbirgt sich intellektuelle Armut und ein Mangel an Imagination. Vor lauter Machen wird in „Sweet Dreams Are Made“ kein Gefühl sicht- oder spürbar. Und so bleibt es den anderen Acts überlassen, die Verbindung von Motion und Emotion, von Bewegung und Gefühl zu erforschen und die Zuschauer zu rühren oder berühren.

Eine, der das sicher gelingen wird, ist Vanessa Van Durme. Die transsexuelle Schauspielerin erzählt in „Look Mummy, I’m Dancing“ ihre außergewöhnliche Lebensgeschichte (30. / 31. 1., im HAU 1). Hierzulande noch zu entdecken ist Ibrahim Quraishi. In der performativen Installation „Wild Life Take Away Station“ präsentiert er ambivalente Situationen zwischen Angst und Lust und reflektiert dabei über das Allzu-Sichtbare in der Pornografie. Keiner pumpt aber so viel Energie und Emotion auf die Bühne wie der belgische Choreograf Wim Vandekeybus. Sein neues Stück „NieuwZwart“ (Neues Schwarz), in dem er mit einem rundum erneuerten Tänzerensemble existenzielle Fragen von Leben und Überleben verhandelt, wird gewiss ein Höhepunkt (3. bis 5. 2., HAU 1). Sandra Luzina

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