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Lebt in Berlin. María Cecilia Barbetta ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

© Marcus Höhn

Buchpreis-Kandidatin María Cecilia Barbetta: „Deutsch ist die Sprache der Freiheit“

Sie ist eine der Anwärterinnen auf den Deutschen Buchpreis: María Cecilia Barbetta über Argentinien in den 70er Jahren und ihren Roman „Nachtleuchten“.

Frau Barbetta, Ihr Roman „Nachtleuchten“ spielt kurz vor dem Putsch in Argentinien 1976 durch das Militär, 1974 und 1975. Warum haben Sie diese Zeit gewählt?

Als Argentinien 2010 Gastland der Frankfurter Buchmesse war, fiel mir auf, dass viele Autoren und Autorinnen gerade aus meiner Generation sich sehr intensiv mit der Zeit der Militärdiktatur auseinandergesetzt haben. Die zwei Jahre davor aber wurden kaum behandelt. Bei meiner Recherche traf ich auf eine Formulierung, die mich nicht mehr losließ. Die Jahre 1974/75 wurden als die Zeit bezeichnet, in der die Magie an der Macht war. In Deutschland wird Argentinien seit dem Boom der lateinamerikanischen Literatur oft fälschlich als das Land des magischen Realismus rezipiert, obwohl es eigentlich in der Tradition der Phantastik steht. Ich nahm mir also vor, eine Geschichte zu schreiben, die nicht magisch-realistisch ist, sondern im Gegenteil, die Magie als politische Gefahr kritisiert, indem sie ihre dunklen Aspekte zum Thema macht.

Was hat man genauer darunter zu verstehen, dass die Magie an der Macht war?

Das war die Zeit, als Perón, schon alt und krank, aus seinem langen Exil zurückkehrte, um eine dritte Amtszeit als argentinischer Präsident anzutreten. Er hatte eine Frau an seiner Seite, die wie Evita aussah, seine 1952 an Krebs gestorbene legendäre zweite Ehefrau, die bis heute für viele als Volksheilige gilt. Evitas Nachfolgerin war María Estela Martínez, genannt Isabel. Perón hatte im Exil mit Gott und Teufel paktiert, mit den Linken genauso wie mit den Rechten. Als er am 1. Juli 1974 starb, wurde María Estela Martínez seine Nachfolgerin. Anders als Evita Perón hatte María Estela Martínez keine Ahnung von Politik und überließ das Land dem Minister José López Rega. Der war Okkultist, wurde von den Argentiniern „der Hexer“ genannt, schrieb Bücher über Esoterik und versuchte durch Rituale die Aura von Evita auf die neue Präsidentin zu übertragen. Er war es auch, der nach esoterischen Prinzipien die rechte paramilitärische Terrororganisation Argentinische Antikommunistische Allianz (AAA) gründete.

Sie sind 1972 geboren, haben diese Zeit also nur als Kind erlebt. Haben Sie sich auch mit ihren Eltern und Verwandten darüber unterhalten, wie es in Argentinien zuging?

Das war gar nicht so leicht. Mein Vater will, besser gesagt, kann nicht wirklich darüber reden. Meine Mutter wiederum weiß, dass er damals große Angst hatte, verwechselt und dann auch verschleppt zu werden, obwohl er nicht politisch aktiv war. Zur Zeit der Militärdiktatur schaute der größte Teil der Gesellschaft weg. Wenn jemand verschleppt wurde, hörte man den Spruch „Por algo será“, „Irgendwas muss schon dran sein“. Das war ein Mittel, sich der Verantwortung zu entziehen. Doch schon vor der Militärdiktatur 1976 war die Zeit der schwarzen Listen der AAA, es gab politische Morde, Entführungen, Autobomben, und um den Obelisken, das Wahrzeichen von Buenos Aires, hatte López Rega ein Banner mit der Aufschrift „Schweigen ist Gesundheit“ ziehen lassen. Angeblich ging es um den Autolärm in der Innenstadt Innenstadt.

Womit Sie auch die Grundlage für die Stimmung unter der Militärdiktatur schufen.

Richtig, ein siebenjähriges Terrorregime, das tiefe Wunden im Land hinterließ und 30.000 Opfer, die sogenannten Desaparecidos, die Verschwundenen. 1983 wurde zwar die Demokratie wieder eingeführt, aber die Militärs waren ja immer noch im Land. Meine Kindheit, meine frühe Jugend und auch noch die Zeit danach stand unter dem Einfluss einer Kultur des Schweigens, der Angst und des Autoritarismus, das habe ich mitaufgesogen.

Sie haben neulich bei einer Lesung gesagt, dass Sie sich lange gefragt haben, ob Sie über diese Zeit schreiben dürfen, auch weil ihre Familie Glück gehabt hat, sie keine Verschwundenen zu beklagen hat.

Ja, dazu passt das Stichwort Autozensur. Der zweite Teil meines Romans spielt in einer Autowerkstatt namens Autopia. Dort arbeitet ein junger Mechaniker, der in seiner Freizeit gern schreibt und sich deshalb Autor-Mechaniker nennt. Er erklärt Autoritarismen und Autokratien den Krieg und listet wohlklingende Wörter auf, die mit Auto beginnen, von Autopia über Autopoesie bis Autonomie. So oder so ähnlich war es: Ich musste mich befreien von der Kultur des Schweigens, von der Angst, die mein Aufwachsen in Argentinien geprägt haben, ich musste mir die Freiheit erkämpfen, auch darüber einen Roman zu schreiben.

Sie haben acht Jahre an dem Roman gearbeitet, hat es auch wegen dieser Prägungen so lange gedauert?

Ich musste tatsächlich mehrere Anläufe unternehmen und meinen eigenen Zugang zu dem Stoff finden. Ich habe mich so lange mit der Geschichte des Landes und der Politik dieser Zeit auseinandergesetzt, dass ich darüber vergaß, was die Literatur eigentlich ausmacht, nämlich Freiheit. Dazu spornt Literatur an, sich von allen Fesseln zu lösen. Ich wollte ja kein Sachbuch, keinen historischen Roman oder Politthriller schreiben oder Leute wie López Rega als handelnde Figuren auftreten lassen, ich wollte mich nicht in deren Gedankenwelt begeben. Ich wollte aber zeigen, was sie mit dem Land anstellen und wie einfache Leute trotzdem ihr Glück suchen und finden.

Trotz der allgegenwärtigen Politik erinnert „Nachtleuchten“ auch mehr an ein Gesellschaftstableau.

Ja, ich glaube, bei aller historischen Bedrohung doch einen heiteren Roman geschrieben zu haben. Mir liegen die einfach Menschen am Herzen, nicht die Politiker. Ich lasse deshalb auch eine der Figuren, die Klosterschülerin Teresa, von Tür zu Tür gehen und ihre kleine, fluoreszierende Plastikmadonna in unterschiedlichen Haushalten ausleihen. Damit wollte ich an so viele Schicksale wie möglich heran, um die Figuren in ihren unspektakulären Alltagskämpfen zu würdigen. Ich wollte Argentinien als Einwanderungsland in all seiner Diversität zeigen. Und es ist doch auch hier so, in Zeiten von Pegida und AfD, beschäftigen wir uns ja auch nicht nur mit dem Rechtsruck. Das macht uns große Sorgen, das behalten wir im Auge – aber wir essen trotzdem gern, wir verlieben uns, treffen Freunde und gehen mit ihnen aus. Das war damals auch so. Das Leben ging ja weiter, der Zusammenhalt, die wahren Freundschaften wurden aber wichtiger. Je präsenter die Bedrohung ist, der Tod in den Siebzigern, desto wichtiger und kostbarer wird das Leben, auch in seinen kleinen Augenblicken.

Trotzdem ist es für ein deutsches Lesepublikum womöglich nicht leicht, Ihrem Roman zu folgen, weil er doch einige Kenntnis in der argentinischen Geschichte voraussetzt.

Das finde ich nicht, es ist nicht nötig, sich auszukennen. Mein Buch liefert die Informationen, die wichtig sind, um die großen Zusammenhänge zu verstehen. Mehr ist nicht erforderlich. Wer will, kann Fährten aufnehmen und mehr über Argentinien erfahren, aber die Geschichten über Sorgen und Nöte der Menschen, über Glück in der Liebe oder im Lottospiel, die Atmosphäre von Buenos Aires – all das kann man auch ohne jede zeithistorische Kenntnisse verstehen.

Es fällt auf, dass Sie nicht nur mit der Sprache spielen, sondern auch mit Schrifttypen, mit Seitenformaten. Es gibt Ankündigungen aus einem Lokalblatt oder mehrere Seiten, auf denen nur der Buchstabe x steht.

Bei dem Aus-x-en geht es um Zensur, natürlich. Aber davon abgesehen: Mir geht es immer wieder darum, Grenzen niederzureißen oder sie zumindest in Frage zu stellen, auch die zwischen Unterhaltungsliteratur und ernster Literatur, eine Unterscheidung, die typisch deutsch ist. Wenn es thematisch passt, arbeite ich gern mit der Bildhaftigkeit von Sprache, und deswegen nehme ich auch Anleihen bei Comics. In „Nachtleuchten“ taucht der Name eines sehr wichtigen argentinischen Comicautors auf: Oesterheld. Er fällt der Militärdiktatur zum Opfer, seine vier Töchter werden verschleppt, seine Schwiegersöhne, und seine Frau gehören zu den ersten, die auf der Plaza de Mayo gegen die Militärs protestiert haben. Im dritten Teil meines Romans bekommt ein Junge, der Sherlock Holmes verehrt und sich als Detektiv versucht, den Sherlock-Time geschenkt, ein Comic aus der Feder von Oesterheld. Dieser Sherlock Time ist ein argentinischer Sherlock Holmes, ein Held, der in Buenos Aires sein Raumschiff stationiert hat, aber Zeiten und Räume überwinden kann. Literatur kann das auch: Zeiten und Räume überwinden, Dinge zueinander führen, die es vielleicht längst nicht mehr gibt.

Mit welcher Literatur sind Sie selbst aufgewachsen?

In erster Linie mit den Argentiniern, den Lateinamerikanern, Männern: Julio Cortázar, Jorge Luis Borges, Ernesto Sábato, Alejo Carpentier, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa ... In der deutschen Schule haben wir deutsche Autoren gelesen, aber es waren immer kurze Texte, denn unsere Kenntnis der deutschen Sprache reichte für mehr nicht aus. Brecht, Kafka, Borchert ..., alles, was in dem Kontext des Deutschen Sprachdiploms passte, denn in der Schule ging es weniger um die Literatur als um Rechtschreibung und Grammatik.

Sie schreiben auf Deutsch, nicht in Ihrer Muttersprache. Warum?

Weil Deutsch die Sprache ist, die ich studiert habe und die ich liebe. Sie ist für mich die Sprache der Freiheit, eine Sprache, die Spaß macht, die ich mir wie eine Geliebte erobert habe und weiter erobern muss. Sie ist schön und klingt gut, und sie gehört zu mir, genauso wie meine Muttersprache zu mir gehört, nur: Für Deutsch habe ich mich irgendwann bewusst entschieden, Spanisch dagegen wurde mir geschenkt. Und wenn ich Argentinien auf Deutsch beschreibe, kommen Welten zusammen. Wir Menschen sind letztendlich eine Mixtur aus unterschiedlichen Erfahrungen, Geschichten, Kulturen.

Wäre es nicht leichter gewesen, den Roman auf Spanisch zu schreiben?

Nein, überhaupt nicht. Spanisch ist für mich eine besetzte Sprache wie Deutsch wahrscheinlich für Sie. Argentinien ist der Ort meiner Kindheit, zweifelsohne ein Sehnsuchtsort. Gleichzeitig ist dieser Ort nicht immer leicht. Das Unverbrauchte, das Unbekümmerte, transportiert stets die fremde Sprache. Sie ist der frische Wind in meinem Buenos Aires. Die Distanz, dir mich von der deutschen Sprache trennt, ist wiederum ein Vehikel, Argentinien aus einer neuen Perspektive unter die Lupe zu nehmen.

Wie war das für Sie, als Sie 1996 nach Deutschland kamen?

Es gibt ein Wortspiel in dem Roman, das mein Ankommen in Deutschland gut beschreibt. Eine Figur fährt in Nachtleuchten auf einer roten Vespa an einem Schild vorbei, auf dem steht „Ausfahrt freihalten“, sie aber liest „Freiheit aushalten“. Ich konnte bei meiner Ankunft in Deutschland die deutsche Sprache zwar gut, aber die Kultur, das Funktionieren der Gesellschaft, verstand ich viel später. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es zum Beispiel möglich, sogar erwünscht war, an der Uni in Seminaren Mitstudenten zu kritisieren oder Dozenten zu widersprechen, das war erstaunlich für mich, das war ich aus Argentinien nicht gewohnt. Wie denn auch?.

Wie häufig besuchen Sie Argentinien?

Nicht oft. Jetzt, wo meine Eltern älter werden, sollte ich öfter hinfliegen. Aber auch dafür gibt es eine prägende Erfahrung. Als ich noch in Argentinien lebte, wurde ich bei manchen Fächern von Lehrern und Lehreinnen aus Deutschland unterrichtet, die mehrjährige Arbeitsverträge an der deutsch-argentinischen Schule hatten. Diese „Entsandten“ waren oft begeistert von Argentinien. Sie reisten durch das Land, konnten bei ihrer Abreise aber meist wenig Spanisch. Mein Leben in Deutschland wollte ich anders gestalten. Ich kenne die hiesige argentinische Community zwar und mag sie sehr gern, aber ich pflege das Eigene nicht, was immer das heißt. In meinem Fall ist das Eigene sowieso längst eine Verschmelzung ganz unterschiedlicher Einflüsse – wie ja im Grunde alle Kultur. Wenn mein Roman das transportiert, hat er sein Ziel erreicht.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

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