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Hände weg von meinem Bauch. Proteste gegen die scharfen neuen Abtreibungsgesetze in Texas.

© Jordan Vonderhaar/AFP

Brennpunkt USA: Angriff auf die Demokratie

Rechte Netzwerke setzen mit Hilfe des Supreme Court ihre Agenda durch. Das Wahlrecht wird eingeschränkt – und Abtreibung soll verboten werden.

Die politische und Religiöse Rechte befinden sich in den USA auf dem Durchmarsch. Auf Bundesstaats-Ebene haben sie in der Republikanischen Partei ihren Einfluss systematisch ausgeweitet. Mit Hilfe des Netzwerks der Religiösen Rechten werden in republikanisch dominierten Bundesstaaten restriktive Gesetze verabschiedet, die einem christlich-nationalistischen Weltbild entsprechen und die demokratischen Prinzipien des Landes untergraben. Die jüngsten Beispiele sind ein Abtreibungsverbot in Texas und eine extreme Verschärfung des dortigen Wahlrechts. Solche Gesetze sind die Früchte einer jahrzehntelangen Strategie der Religiösen Rechten, deren Netzwerk Annika Brockschmidt in ihrem neuen Buch „Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“ (Rowohlt, 416 Seiten, 16€), das am 19.Oktober erscheint, detailliert untersucht. Donald Trumps Präsidentschaft ist dabei nur eine Episode auf dem Weg einer einflussreichen, unterschätzten Bewegung zur Macht.

Präsident Joe Biden hat die Bemühungen der Republikaner, Wählerrechte zu beschränken, als „unamerikanisch“ verurteilt. Doch ohne eine Wahlrechtsreform, die parteiisches Gerrymandering – das Ziehen von Wahlbezirksgrenzen zum eigenen Vorteil – und Wahlrechtsbeschränkungen verbietet und die den Zugang zur Stimmabgabe erleichtert, statt sie zu erschweren, und vor Diskriminierung schützt, ist die Perspektive für die Demokraten 2022 ungewiss, von 2024 ganz zu schweigen. Denn ohne Wahlreformen müssten sie eine gewaltige Menge von Wählerinnen und Wählern mobilisieren, um Senat und Repräsentantenhaus zu halten.

Verteidigung des Wahlrechts. Die Vorsitzende der League of Women Voters of the United States Virginia Kase Solomon spricht während der Demonstration unter dem Motto "No More Excuses: Voting Rights Now!" am 5. Oktober in Washington, um die Biden-Regierung zum Schutz der Wahlrechte aufzufordern.
Verteidigung des Wahlrechts. Die Vorsitzende der League of Women Voters of the United States Virginia Kase Solomon spricht während der Demonstration unter dem Motto "No More Excuses: Voting Rights Now!" am 5. Oktober in Washington, um die Biden-Regierung zum Schutz der Wahlrechte aufzufordern.

© AFP

Die Vereinigten Staaten befinden sich in einem Kalten Bürgerkrieg, sagt der Religionswissenschaftler Bradley Onishi: „Unsere Kultur und Politik sind so gespalten, dass es sich anfühlt, als würden zwei Länder in einem Raum existieren. Es ist ein kalter Krieg, weil es bisher nicht zu weit verbreiteter Gewalt gekommen ist, aber es gibt Warnzeichen aus 2020, die auf steigende Unruhe hindeuten.“

Derweil wird der Kampf um die Geschichte des Landes längst ausgefochten, um das Fundament der amerikanischen Gegenwart. Präsident Biden hielt am 1. Juni 2021 – an dem sich das Tulsa Massacre, bei dem Hunderte Black and People of Color von einem weißen Lynchmob getötet wurden, zum 100. Mal jährte – eine historische Rede. Biden positionierte sich klar gegen Versuche, das Aufzeigen von systemischem Rassismus zu verbieten.

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In Oklahoma selbst wurde kurz vor dem Jahrestag des Tulsa Massakers das „1775 Gesetz“ verabschiedet. Es löste bei Lehrenden und Beobachtenden Entsetzen aus, denn Oklahomas Geschichte ist geprägt von Lynchings, Terror und Gewalt gegen Black and People of Color und der Enteignung der indigenen Bevölkerung – das dürfe im Klassenzimmer nicht totgeschwiegen werden.

Egunwale Amusan glaubt nicht daran, dass es der Stadt um eine echte Aufarbeitung des Massakers geht. Er führt jede Woche Gruppen durch das Viertel Greenwood von Tulsa, wo vor 100 Jahren ein fürchterliches Massaker an der schwarzen Bevölkerung verübt wurde.
Egunwale Amusan glaubt nicht daran, dass es der Stadt um eine echte Aufarbeitung des Massakers geht. Er führt jede Woche Gruppen durch das Viertel Greenwood von Tulsa, wo vor 100 Jahren ein fürchterliches Massaker an der schwarzen Bevölkerung verübt wurde.

© Lukas Hermsmeier

Doch genau darauf zielt das Gesetz ab. Ähnliche Gesetze wurden derweil in Tennessee, Texas und Idaho verabschiedet, zahlreiche weitere sind in anderen Bundesstaaten bereits auf dem Weg. Ein gemeinsamer Nenner dieser Gesetze, der an restriktive „Erinnerungs-Gesetze“ in autoritären Staaten denken lässt, ist der Fokus auf Gefühlen, analysiert der Historiker Timothy Snyder. Unterrichtsinhalte dürften nicht zu „Unbehagen, Schuldgefühlen, Schmerz und anderen Formen von psychologischer Bedrängnis auf der Basis der race oder des Geschlechts des Individuums“ führen. Ein fataler Ansatz, mit Geschichte umzugehen, denn, wie Snyder schreibt: „Geschichte ist keine Therapie.“

Die Vertreter der Religiösen Rechten fühlen sich durch den Obersten Gerichtshof ermutigt. Und sie haben allen Grund dazu: Der Supreme Court hat an seinem letzten Tag vor der Sommerpause 2021 eine Reihe von Urteilen veröffentlicht, die der amerikanischen Demokratie einen herben Schlag versetzt haben. Zum einen beschied das Gericht mit einer 6:3-Mehrheit, dass die Wahlrechtsbeschränkungen im Swing State Arizona verfassungskonform seien.

Das Urteil, geschrieben von Samuel Alito, stellt eine weitere Aushöhlung des Voting Rights Acts von 1965 dar. Laut dem Supreme Court verstoßen Gesetze, die eindeutig bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminieren, nur dann gegen die Verfassung, wenn sie auch eindeutig in dieser Absicht verfasst wurden. Es ist ein Meilenstein in dem jahrzehntelangen Bestreben der erzkonservativen Federalist Society-Fraktion des obersten Gerichts, das Wahlrecht zu unterwandern.

John Roberts, der so gern als moderater Konservativer genannt wird, hatte für diese Fraktion bereits 2013 einen bedeutenden Sieg errungen, als das Gericht unter seiner Führung im Fall Shelby County gegen Holder beschloss, dass Bundesstaaten eine Änderung ihres Wahlrechts nicht mehr vom Bund genehmigen lassen mussten. Er setzte damit eine Regelung außer Kraft, die rassistischen Wahlrechtsbeschränkungen in der Vergangenheit einen Riegel vorgeschoben hatte.

In 48 Bundesstaaten liegen Gesetze zur Wahlrechtsverschärfung vor

Die konservative Mehrheit argumentierte, dass Amerika nicht mehr rassistisch genug sei, um einer solchen Regelung zu bedürfen. Die Logik war absurd, wie Ruth Bader Ginsburg in ihrem Dissent deutlich machte: „Diese Regelung abzuschaffen, obwohl sie funktioniert hat und es immer noch tut, ist wie seinen Regenschirm in einem Regensturm wegzuwerfen, weil man nicht nass wird“, schrieb sie. Der Supreme Court hat diese Aushöhlung des Voting Rights Acts nun fortgesetzt. In 48 Bundesstaaten wurden bis Ende Mai 2021 bereits 389 Gesetze zur Wahlrechtsverschärfung vorgestellt, die das Wählen vor allem für Black and People of Color schwieriger machen. Bis zum 21. Juni 2021 hatten mindestens 17 Staaten 28 solcher Gesetze bereits verabschiedet. Die Organisationen States United Democracy Center, Protect Democracy und Law Forward melden mindestens 216 Gesetze in 41 Staaten, die der Legislative deutlich mehr Macht in Bezug auf die Durchführung von Wahlen einräumen würden – 24 davon sind bereits verabschiedet worden.

Darin oft inbegriffen: die Entmachtung lokaler Wahlbeamter, die sich im November 2020 nicht von Trumps Druck einschüchtern ließen. Die effektive Beschränkung der Wahlrechte von Black and People of Color und die restriktiven „Erinnerungs-Gesetze“ gehen Hand in Hand. Wer die Geschichte der Unterdrückung der Stimmen von Black and People of Color in der amerikanischen Vergangenheit nicht kennt, wird es schwerer haben, sie in der Gegenwart zu erkennen.

Der Oberste Gerichtshof der USA hat mit einer 5-4 Mehrheit erst einmal einen Eilantrag gegen das dystopische Abtreibungsgesetz aus Texas gestoppt. Das Justizministerium klagt nun gegen das texanische Gesetz.
Der Oberste Gerichtshof der USA hat mit einer 5-4 Mehrheit erst einmal einen Eilantrag gegen das dystopische Abtreibungsgesetz aus Texas gestoppt. Das Justizministerium klagt nun gegen das texanische Gesetz.

© AFP

Das Gericht urteilte außerdem zugunsten der Americans for Prosperity, der Astroturf-Organisation des Koch-Netzwerks: Wohltätige Organisationen müssen demnach in Kalifornien ihre Spender nicht offenlegen, ein großer Sieg für Dark Money-Gruppen wie Heritage Action und viele andere. Richterin Sotomayor machte in ihrem Dissent deutlich, welche Gefahr von dem Urteil ausgehe: „Die heutige Analyse macht die Melde- und Offenlegungspflichten zur Zielscheibe“, schrieb sie. Unternehmen, die ihren Verpflichtungen entgehen möchten, können dies nun tun, indem sie vage auf die Datenschutzbedenken des Ersten Zusatzartikels verweisen.“

In der nahen Zukunft stehen außerdem wegweisende Urteile in Sachen Abtreibung und Waffenrecht an. Der konservativ dominierte Supreme Court hört im Herbst 2021 den Fall Dobbs versus Jackson Women’s Health Organization an, der die Zukunft von Abtreibungsrechten in den USA in Gefahr bringen könnte. Eine Entscheidung wird im Frühjahr 2022 erwartet.

Wie wird sich der Oberste Gerichtshof verhalten?

Dann wird sich zeigen, wie weit der Oberste Gerichtshof die bisherigen Urteile, beziehungsweise das, was nach Jahrzehnten durch von der Religiösen Rechten gelenkte Attacken davon noch übrig ist, zurückdrehen wird. Wahrscheinlich ist, wie schon beim Thema Wahlrecht, die weitere Aushöhlung der bestehenden Gesetzgebung. Zwölf Republikanische Gouverneure haben im Mississippi-Fall bereits im Juli 2021 einen Brief verfasst, in dem sie das Oberste Gericht auffordern, die Entscheidung über Gesetzgebung bezüglich Abtreibung den einzelnen Bundesstaaten zu überlassen. Sollte der Supreme Court das Abtreibungsverbot nach 15 Wochen in Mississippi für verfassungsmäßig erklären, würde das Tür und Tor für weitere restriktive Anti-Abtreibungsgesetze öffnen und womöglich zu einem Verbot von Verhütungsmitteln führen.

Auch hier ist nicht absehbar, ob eine solche Entscheidung einen öffentlichen Aufschrei nach sich ziehen würde. In Texas wurde beispielsweise das bisher restriktivste Wahlgesetz durch breiten Widerstand von Demokraten verhindert, zumindest für kurze Zeit. Der Oberste Gerichtshof hat jedoch schon im Spätsommer mit einer 5-4 Mehrheit entschieden, ein wahrhaft dystopisches texanisches Abtreibungsverbot nach sechs Wochen Schwangerschaft zu blockieren.

Wer klagt und gewinnt, sollte ein Kopfgeld bekommen

Das Gesetz sieht keine Ausnahmen für Vergewaltigung und Inzest vor. Der Trick: Die Durchsetzung des Gesetzes liegt dabei nicht beim Staat, sondern bei Bürgerinnen und Bürgern. Laut dem Gesetz können alle, die Schwangeren bei einer Abtreibung helfen – Ärztinnen, Pfleger, Rezeptionisten, Taxifahrerinnen – von Privatpersonen verklagt werden. Als wäre das nicht schlimm genug, gibt es auch einen finanziellen Anreiz: Wer klagt und gewinnt, erhält mindestens 10 000 Dollar Kopfgeld als Belohnung.

Entschieden hat der Supreme Court das nicht auf regulärem Weg, sondern im sogenannten „Shadow Docket“, einer Art Notfallvariante für Fälle ohne Anhörungen oder öffentliche Transparenz. Eigentlich nur für Notfälle gedacht, in denen die Zeit drängt, war der Shadow Docket seit Trumps Regierungsantritt zum Instrument eines immer extremeren Obersten Gerichtshofs geworden, in dem die kontroversesten Entscheidungen fast heimlich, meist nachts entschieden wurden, darunter der Muslim Ban, die Mauer zu Mexiko, das Verbot von trans Menschen, im Militär zu dienen, das Ende des Zwangsräumungsstopps während der Pandemie und jetzt das Abtreibungsgesetz in Texas.

Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“. Das Buch erscheint am 19. Oktober bei Rowohlt (416 Seiten, 16 €).
Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“. Das Buch erscheint am 19. Oktober bei Rowohlt (416 Seiten, 16 €).

© Rowohlt

Die Hexenjagd auf Abtreibungsbefürworter ist damit offiziell eröffnet. Und Texas ist nur der Anfang: Andere Republikanische Staaten werden nachziehen, in Swing States werden Republikaner mit der Aussicht auf ähnliche Gesetze Wahlkampf machen. Es ist ein Meilenstein für die Religiöse Rechte in ihrem Kampf für ein christlich-nationalistisches Amerika. US-Justizminister Merrick Garland hat nun Klage eingereicht gegen den Bundesstaat Texas wegen des restriktiven Abtreibungsgesetzes. Das seit dem 1. September geltende Gesetz sei „eindeutig verfassungswidrig“.

Am 20. Oktober um 16 Uhr liest Annika Brockschmidt beim Open Books Festival der Stadt Frankfurt aus ihrem Buch, die Lesung wird gestreamt.

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