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Hinaus in die Welt, ihr Zimmerleute. Momentaufnahme aus Potsdam.

© Ottmar Winter PNN

Arbeitsmarkt: Bleistifte bohren keine dicken Bretter

David Goodhart hält ein allzu flammendes Plädoyer für Handwerks- und Pflegeberufe.

Die Pandemie teilt unsere Zeit in ein Vorher und Nachher. Wer wie der britische Journalist David Goodhart vor Corona über jüngere Entwicklungen in westlichen Gesellschaften schrieb, läuft Gefahr, von der Realität überholt zu werden. Nun klingt seine Ausgangsthese erst einmal aktuell: Die Akademiker dominieren eine Gesellschaft, die ihnen viel zu viel Ansehen und Einfluss zugesteht. Ihnen stehen Menschen mit brauchbaren, aber meist weniger gut bezahlten und weniger prestigeträchtigen Berufen gegenüber: Handwerker, Pflegekräfte, Facharbeiter. Goodhart sieht sich durch die Krise bestätigt.

[David Goodhart: Kopf Hand Herz. Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Penguin, München 2021. 390 S., 22 €.]

Die Pandemie, schreibt er im Vorwort, „werde dazu beitragen, handwerkliche, nicht-akademische Berufe und Tätigkeiten in Erziehung und Pflege wieder aufzuwerten und ihnen etwas von dem Ansehen zurückgeben, das sie in den zurückliegenden Jahrzehnten an den Kopf – sprich kognitive Tätigkeiten – verloren haben.“

Mangel an Pflegekräften

Doch diese Hoffnung ist falsch, und das war bereits im Frühsommer 2020 abzusehen. Auf Beifall, ließ eine Pflegerin medienwirksam wissen, könne sie verzichten. Auf bessere Arbeitsbedingungen hingegen nicht. Corona machte den schon lange andauernden Mangel an Pflegekräften für jeden sichtbar, weil er plötzlich jeden betreffen konnte.

Das Strukturproblem dahinter aber interessiert Goodhart mit keinem Wort: die seit 2003 vorangetriebene Privatisierung und Ökonomisierung der Gesundheitssysteme. Kein Wort über die entsprechende Politik bei Goodhart. Stattdessen sieht er den Grund für den Arbeitskräftemangel in einer „im Grunde positiven Entwicklung“: „Frauen haben heute mehr berufliche Möglichkeiten als vor fünfzig Jahren und verfügen im Durchschnitt über mehr Bildung. Die Anwerbung von Pflegekräften ist sicher schwerer geworden, seit Frauen die gläserne Decke durchbrochen haben.“

Dazu zitiert er die amerikanische Philosophin Virginia Held: „Wenn Frauen mit ihrer berechtigten Forderung nach Gleichstellung die Gerechtigkeit auf Kosten der Fürsorge verfolgen, dann leidet die Moral.“ Eines von vielen Beispielen, an dem sich das doppelte methodische Problem dieses Buchs zeigt: Es fehlt ihm an Realitätsbezogenheit, an wissenschaftlicher Expertise ohnehin.

Meinung ohne Fakten

Goodhart häuft Material an. Auswahl, Bewertung und Gewichtung folgen Kriterien, die er nicht offen legt. An eigener Forschung fehlt es sowieso – abgesehen von einer von ihm in Auftrag gegebenen Studie zum nebulösen Begriff Status, Und so bestimmt Meinung das Buch, Goodharts Meinung. Der Stoff, den er zusammenträgt, hat keine andere Funktion, als sie zu stützen.

Es ist nicht ganz einfach, aus den weitschweifigen, oft assoziativ gebauten Argumentationsschleifen herauszulesen, wo sich der 1956 geborene David Goodhart politisch verortet. Einmal nennt er sich einen Sozialdemokraten. Von ganz links nach Mitte links gerückt, nicht untypisch für einen Jungen der Oberschicht, der als Sohn eines konservativen Politikers und einer Hausfrau „ohne Bildungshintergrund“ gegen das Elternhaus rebellierte. Seine ausgezeichneten Abschlüsse in Politik und Geschichte habe er auch seinem Engagement in marxistischen Studentengruppen zu verdanken, bekennt er freimütig. Seine Ignoranz gegenüber den Steuerungsmechanismen der Politik erklärt sich damit nicht. Vielleicht aber ein herablassendes Menschenbild, das selbst in einem Kastendenken gefangen ist.

Wie sonst sollte man einen Satz verstehen, den Goodhart gleich im ersten Kapitel hinwirft: „Onlinehändler wie Amazon sorgen zwar dafür, dass im Einzelhandel Stellen verloren gehen, doch dafür schaffen sie neue Arbeitsplätze in Auslieferzentralen und Zustellfirmen. Einige der Arbeiten können sicher von Maschinen und Migranten übernommen werden, sodass die heimischen Arbeitnehmer in der Hierarchie aufsteigen können.“

Angst vor Zahlungsunfähigkeit

Aufstieg, Abstieg, Status. Das sind Kategorien, die den selbstständigen Handwerksmeister vielleicht weniger interessieren, als die Zahlungsfähigkeit seiner Kunden. Abgesehen davon ist das Ungleichgewicht, das Goodhart konstatiert, seit langem bekannt. In Deutschland warnten Unternehmer- und Handwerksverbände schon 2016 davor, noch mehr Akademiker auf einen Arbeitsmarkt zu werfen, der sie nicht braucht.

Man kennt die Schlagwörter: Akademikerschwemme, Fachkräftemangel, Pflegenotstand. Jedes dieser Phänomene hat eine lange, ideologisch aufgeladene Geschichte. Im Jahr 1963 etwa wurde Deutschland in einer OECD-Studie für sein Bildungssystem gerügt, weil es zu wenige Schüler an die Universitäten brachte. Es folgte ein langer, von hart umkämpften Reformen gezeichneter Weg bis ins „Zeitalter der Massenuniversität“. Masse ist nie Klasse. Daran lässt Goodhart keine Zweifel.

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Goodhart malt das große Panorama, die Entwicklung des Bildungswesens, den Aufstieg der kognitiven Klasse, wie er sie nennt. Ausgiebig berichtet er vom Auf und Ab der englischen Universitäten, der Akademisierung ursprünglich handwerklicher Berufe, etwa in der Medizin. Dem Kopf also gewährt er mehr als doppelt so viel Raum, wie „Herz“ und „Hand“. Dem im Titel formulierten Anspruch wird er damit nicht nur nicht gerecht, er verrät ihn sogar. Denn Aufwertung hat immer mit Wahrnehmung zu tun, damit, genau hinzusehen und dann davon zu berichten.

Wie denn wirklich gearbeitet wird im Handwerk, wie in der Pflege, und warum junge Leute diese Berufe nicht mehr ergreifen wollen, und wie man das ändern könnte – darüber aufzuklären, wäre eine Form der Wertschätzung. Das aber tut David Goodhart nicht. Haarscharf guckt er über jene hinweg, die er im Blick zu haben vorgibt.

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