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Aus Südchina nach London. Die Sprachwechslerin Xiaolu Guo.

© mauritius images

Xiaolu Guos Roman "Ich bin China": Beton und Jasmin

Anpassung, Widerstand, Exil: Xiaolu Guo schreibt mit dem Roman „Ich bin China“ einen Abschiedsbrief an ihr Land.

Von Gregor Dotzauer

Von einer Jasmin-Revolution sprachen die Demonstranten, die Anfang 2011 in einem Dutzend chinesischer Städte für mehr Demokratie auf die Straße gingen, noch selber: Sie wollten damit an die tunesischen Proteste unmittelbar zuvor anknüpfen. Das Wort von der Regenschirm-Revolution, das die Medien für die Hunderttausend von Hongkong prägten, die im Herbst 2014 Unabhängigkeit von der Pekinger Zentralmacht forderten, war den Teilnehmern schon nicht mehr geheuer: Sie betrachteten ihr Aufbegehren als zivilen Ungehorsam. Aber was wäre in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern überhaupt eine Revolution?

„Revolution“, glaubt Kublai Jian, der Gitarre spielende Punkrebell in Xiaolu Guos Roman „Ich bin China“, ist „unmöglich, weil das Volk freiwillig im Gefängnis lebt und sich täglich vom Staatsmythos trösten lässt.“ Sie ereignet sich erst dann, „wenn das Wasser, in dem die Bürger schwimmen, gefriert. Das Eis bricht auf und zersplittert, und die Fische werden aufs trockene Land geworfen, wo sie nach Luft schnappen.“

Kublai Jian hat seine Konsequenz längst gezogen. Das heißt: Er hat sie ziehen müssen. Nachdem er mit seiner Band Yuan vs Dollars im November 2011 vor 30000 Fans das Pekinger Olympiastadion elektrisiert und ein fotokopiertes Manifest in die Menge schleudert, wird er verhaftet, verprügelt und in ein Gefängnis für politischer Straftäter gebracht, bevor er überraschend ausreisen kann und als Asylant durch Europa irrt.

Als Sabotage Sister tourt sie durch die USA

Für seine einstige Freundin Deng Mu – man erfährt die Geschichte ihrer gescheiterten Liebe aus Briefen und Tagebüchern – verläuft der Abschied aus China glimpflicher. Trotz einer nicht minder aufsässigen Ader, hat sie ein versöhnlicheres Gemüt und sucht eher nach persönlicher als nach politischer Freiheit. Unter dem Pseudonym Sabotage Sister tourt sie mit den Musikern von Beijing Manic als Spoken-Word-Dichterin durch die USA und findet schließlich in der Londoner Niederlassung einer Pekinger Schiffsbaufirma Arbeit. Heimatlos sind sie beide: Jian als Exilant und Mu als Emigrantin.

Beider Seelen schlagen in Xiaolu Guos temperamentvoller Brust. 1973 in einem südchinesischen Fischerdorf als Tochter einer Schauspielerin und eines Malers geboren, der 15 Jahre lang, bis 1971, als ästhetischer Abweichler in einem Lager interniert war, wuchs sie bei ihren Großeltern auf. Schon als Jugendliche begann sie zu schreiben, kam mit 18 Jahren zum Studium an die Pekinger Filmhochschule, wo sie schnell mit der Zensur in Konflikt geriet. Ein Stipendium brachte sie an die National Film and TV School in London, bis ihr Visum auslief und sie drei bange Monate nach Peking zurückkehren musste. 2002 gelang ihr – nicht zuletzt auf Fürsprache von Salman Rushdie – die legale Rückkehr nach London, wo sie heute im Stadtteil Hackney lebt.

Jian ist 17, als es im Juni 1989, zweieinhalb Monate nach dem Tod des KP-Generalsekretärs Hu Yaobang, dessen reformerischer Gesinnung eine wachsende Zahl von Studenten öffentlich nachtrauert, auf dem Pekinger Tiananmen-Platz zu jenem Zusammenstoß zwischen Volksarmee und Demonstranten kommt, der die große Leerstelle in Chinas jüngster Vergangenheit bildet. Das Blutbad wird im Land einerseits totgeschwiegen, andererseits ist es für die Regierung ein heimlicher Bezugspunkt von unheimlicher Wirkmacht: eine ständige Drohung, die Kräfte auf offener Bühne nicht noch einmal derart eskalieren zu lassen.

Der Stoff bedarf der Übersetzung - auch der kulturellen

Aus Südchina nach London. Die Sprachwechslerin Xiaolu Guo.
Aus Südchina nach London. Die Sprachwechslerin Xiaolu Guo.

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Das ebenso ausgeklammerte wie präsente Geschehen hat eine ganze Generation geprägt. Zugleich konkurriert es mit dem Wirtschaftszauber eines neuen China, dessen enormes Sozialgefälle trotz steigenden Wohlstands für alle auf Dauer womöglich mehr Sprengkraft entfaltet als jede Beschneidung bürgerlicher Rechte. Wenn es in der Volksrepublik – neben Ansätzen zivilgesellschaftlicher Prozesse – auch vielfältige Formen einer Gegenkultur gibt, die sich der Dosierung ihrer Mittel stets aufs Neue versichern muss, setzt sich doch nur eine Handvoll von Romanen mit den Tiananmen-Ereignissen auseinander.

Einer der bekanntesten, „Peking Koma“, stammt von dem 1953 in Qingdao geborenen und nach Jahren politischer Querelen in London lebenden Ma Jian. Die 1972 in Peking geborene Yiyun Li lebt nicht nur im kalifornischen Oakland, sie hat ihren dritten, im Herbst auf Deutsch erscheinenden Roman „Kinder Than Solitude“ wie die zwei zuvor gleich auf Englisch geschrieben. Eine Ausnahme macht nur die 1973 geborene Sheng Keyi. Während ihr allegorischer Roman „Death Fugue“ letztes Jahr in Australien erschien, bleibt er in Festlandchina verboten, offenbar ohne dass die in Peking ansässige Sheng als Person Nachstellungen fürchten müsste. Freimütig erklärte sie unlängst bei der New Yorker Asia Society, dass sie es sich selbst anzulasten habe, der Zensur nicht geschickter ausgewichen zu sein.

Komplizierter verhält es sich mit der Lyrik. Die sogenannten Nebeldichter um Bei Dao und seine Zeitschrift „Jintian“ entwickelten in all ihrer Heterogenität schon Ende der 70er Jahre, kurz nach der Kulturrevolution, Sprechweisen, die sich durch entschiedenen Subjektivismus und Vieldeutigkeit bis zum Hermetismus dem offiziellen Diskurs zu entziehen versuchten. Sie waren, etwa in Gestalt von Yang Lian, dann aber zur Stelle, als es galt, den Toten von Tiananmen nachzurufen. Ein Sonderfall schließlich ist der im Berliner Exil lebende Liao Yiwu, der mit seiner Poesieperformance „Massaker“ wie mit seiner Dokumentarliteratur („Die Kugel und das Opium“) das Pathos der unverstellten Anklage übt.

Inzwischen besucht sie China mit einem britischen Pass

Xiaolu Guo nennt „Ich bin China“ den Abschiedsliebesbrief an ein Land, das sie mittlerweile mit einem britischen Pass besucht, und diese verzweifelte Zuneigung ist eine entscheidende Triebkraft ihres Erzählens. Beim Festival des Pekinger Bookworm, einer überwiegend von englischsprachigen Expats frequentierten Mischung aus Café, Buchhandlung und Leihbibliothek ist sie gerade erst wieder aufgetreten – nur auf rein chinesischen Podien ist sie nicht mehr willkommen. Aber da herrschen undurchschaubare Regeln. ährend ein maßvoll kritischer Autor wie der in Boston lebende Ha Jin gar nicht mehr einreisen darf, wird ein so konfrontativer Geist wie Ma Jian nicht abgewiesen: Für seinen Ende Juli bei Rowohlt erscheinenden Roman „Die dunkle Straße“, der sich mit Chinas Umweltdesaster beschäftigt, war er im Land zu langen Recherchereisen unterwegs.

„Ich bin China“ ist Guos viertes Buch in deutscher Übersetzung und das dritte auf Englisch geschriebene. Sie debütierte 2005 mit dem Kindheitsroman „Stadt der Steine“, machte den Sprachwechsel in „Kleines Wörterbuch für Liebende“ zum Thema und ließ in dem von ihr selbst verfilmten Roman „Ein Ufo, dachte sie“ einen Fremdkörper auf einem chinesischen Acker landen, der die Obrigkeit mit satirisch ergiebigen Problemen konfrontiert. Die fiktiven Dokumente, in denen sich das Schicksal von Mu und Jian entfaltet, werden gebrochen vom Blick, den die junge schottische Übersetzerin Iona Kirkpatrick auf sie wirft. Den Auftrag hat ihr ein Verleger namens Jonathan Barker erteilt, der in dem Konvolut zurecht ein Geheimnis vermutet. Zwischen ihm und Iona entwickelt sich eine zweite Liebesgeschichte.

Die doppelte Perspektive gehört zu Guos überzeugendsten Ideen: Sie will dem Leser gar nicht erst weismachen, dass der zentrale Stoff unvermittelt verständlich wäre: Er bedarf der Übersetzung – auch einer kulturellen. In der Durchführung sind Stärke und Schwäche des Romans vereint. Der herzergreifenden Emotionalität der Briefe und Notizen, der man höchstens vorwerfen könnte, dass die Stimmen von Mu und Jian nicht ausreichend voneinander unterschieden sind, entspricht ein gewisser Mangel an zeitgeschichtlicher Szenerie. Es sind Bekenntnisse aus der Innensicht zweier Menschen, die äußere Details als bekannt voraussetzen können.

In diesem Sinn ist „Ich bin China“ vor allem ein Austausch über Anpassung und Widerstand unter autoritären Verhältnissen, und das in einer seltenen Gegenwärtigkeit, die in den Motti der auf Sprichwörter und Gedichtzeilen aus dem alten China zurückgreifenden Kapitel zugleich ein Stück Rettung in der Vergangenheit sucht. Ein ganz eigenes Aufbegehren steckt in der sexuellen Freizügigkeit des Romans, der so nie in China veröffentlicht werden dürfte.

Die große literarische Referenz ist indes Wassili Grossmans epochaler Roman „Leben und Schicksal“: eine Absage an das Glücksversprechen des Kommunismus aus dem Geist eines mitfühlenden Realisten. Es hat seinen besonderen metafiktionalen Reiz, wenn Iona bekennt, dass ihr mit Mu und Jian zwei echte Menschen näher gerückt seien als Grossmans Figuren. Am Ende steht eine Überschreibung von Allen Ginsbergs zornigem Gedicht „America“. Wer hätte gedacht, dass es 60 Jahre nach seiner Veröffentlichung genügen würde, das litaneihaft angerufene Amerika durch das Wort China zu ersetzen, um eine gültige Beschreibung des heutigen China zu erhalten? „China ich habe dir alles gegeben, und nun bin ich /nichts.“

Xiaolu Guo: Ich bin China. Roman. Aus dem Englischen von Anne Rademacher. Knaus, München 2015. 431 Seiten, 19,99 €.

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