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Letzter Appell. Wahlkampf vor einem Berliner Lokal im November 1932. Die NSDAP wird stärkste Partei.

© Getty Images

Bernard von Brentano wiederentdeckt: Er sah 1932 Deutschlands Absturz in den Faschismus voraus

Bernard von Brentano bereiste in den 1930ern die Weimarer Republik. Was er vorfand, ließ ihn den „Beginn der Barbarei in Deutschland“ prophezeien.

Als im Oktober 1930 eine Explosion die Grube Anna II in Alsdorf bei Aachen zerstörte, kam es zum schwersten Unglück in der Geschichte des deutschen Bergbaus. Noch stehe der Förderturm, „umweht von einer schwarzen Fahne“, und arbeite, schreibt Bernard von Brentano in seiner Reportage über die Katastrophe. „Aber heute bringt er Leichen zutage, nicht Kohle.“

Fast 300 Bergleute starben. In dem Unglück sah der Journalist und Schriftsteller ein Symptom für die tiefe Krise, in der sich die Republik befand.

Ein Jahr später kehrt er nach Alsdorf zurück und kommt in eine Kleinstadt, die erneut in Aufruhr war, diesmal aus anderen Gründen. Bei einer Demonstration vor der Grube ist ein Streikender von der Polizei angeschossen und schwer verletzt worden. Der Streik muss erfolglos abgebrochen werden, die vermeintlichen Rädelsführer werden von der Zechenverwaltung fristlos entlassen.

Das Bergwerksunglück, schreibt Brentano, sei „wie ein Brand gewesen, der die unheimliche Dunkelheit, welche über so vielen Bezirken Deutschlands liegt, auf einen Augenblick erhellte“.

Dunkel, das ist für ihn vor allem die ökonomische Lage: „Armut und Ausbeutung der Arbeiter, Wirtschaft und Profit um jeden Preis, Entwicklung der Technik, Entwertung des Menschen.“

Der Parlamentarismus war tot

Die Weimarer Republik war schon fast am Ende, als Brentano 1932 sein Buch „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ veröffentlichte.

[Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland. Eichborn, Köln 2019. 320 Seiten, 18 €]

Die Zahl der Arbeitslosen überstieg die 5-Millionen-Marke, bei den Reichstagswahlen im November sollte die NSDAP zur stärksten Partei aufsteigen, seit zwei Jahren regierten Präsidialkabinette mittels Notverordnungen. Der Parlamentarismus, befand Brentano, hatte aufgehört zu leben.

Sein Buch, das jetzt, erweitert um eine Einführung des Herausgebers Roman Köster, erstmals wieder herauskommt, besaß durchaus hellseherische Qualitäten. Der Titel bezieht sich auf Marx, der gesagt hatte, dass es neben dem Sozialismus noch einen anderen Ausweg aus dem Kapitalismus gebe: die Barbarei.

Das Buch wechselt rasant die Formen

Bernard von Brentano, der einige Jahre später seine großen Gesellschaftsromane „Theodor Chindler“ und „Franziska Scheler“ schrieb, mischt journalistische und literarische Formen.

Das Buch wechselt von der Reportage zur ökonomischen Analyse und zum soziologischen Essay. Seine Wut, die Brentano beim Beschreiben der Verhältnisse packt, grundiert er mit Empirie.

Seit der späten Kaiserzeit, das belegt er mit Statistiken, hatte sich für Bergarbeiter in Preußen die Wahrscheinlichkeit, zum Opfer eines Unfalls zu werden, nahezu vervierfacht.

Doch die Besitzer des Alsdorfer Bergwerks steigerten im Jahr nach dem Unglück ihren Reingewinn auf drei Millionen Reichsmark.

Macht und Bestrafung

Brentano fährt durch Deutschland, und er schaut genau hin. In Essen, wo Schlichtungsverhandlungen zu Lohnkürzungen für die Arbeiter geführt haben, sieht er, wie auf dem rechten Trottoir der Hauptstraße die teuren und auf dem linken die „wohlfeilen“ Huren promenieren.

Überstrahlt werden sie von der Kinowerbung für den Film „Meine Frau – die Hochstaplerin“. Der Anblick der großen Reviere im Ruhrgebiet kommt dem Reporter ägyptisch vor. „Die Pyramiden müssen auf eine ähnliche Weise errichtet worden sein. Sogar die Peitsche (…) ist wiedergefunden worden: die Rationalisierung.“

Die Asphaltkultur der Städter

Im Oldenburger Land besucht Brentano ein Gasthaus, in dem der „Völkische Beobachter“ ausliegt, das Parteiorgan der NSDAP.

Der Wirt ist mürrisch, der Fremde kommt nur schwer ins Gespräch mit den Leuten. Eine siebenköpfige Familie lebt in einer winzigen Küche und einem zwei mal zwei Meter großen Raum, der arbeitslose Vater und zwei Kinder sind lungenkrank.

Obwohl die Agrarproduktion mehr und mehr industrialisiert wird, sehen sich selbst überschuldete Kleinlandwirte als stolze Bauern, nicht als Proletarier. Landwirtschaftsverbände und völkische Zeitschriften wettern, ganz im NS-Jargon, gegen die „Asphaltkultur“ der Großstädte und die Berliner Politiker, die der „Scholle“ feindlich seien.

Er radikalisierte sich nach links

Brentanos Reiseberichte erinnern an die „Briefe aus Deutschland“, die sein Freund und Kollege Joseph Roth 1927/28 über seinen Besuch in den Bergbaurevieren des Saarlands publizierte. Wobei Brentano wesentlich nüchterner als der Sprachvirtuose Roth formuliert, der, im Aufzug in eine Grube hinabfahrend, über die „Vergeblichkeit jedes Aufwärtsstrebens und die Vorstellung, dass man wie ein Toter versenkt wird“ meditiert.

Als Roths Nachfolger war Brentano ins Berliner Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ gekommen, 1930 wechselte er zum „Berliner Tageblatt“. Politisch radikalisierte er sich immer weiter nach links. Im „Barbarei“-Buch polemisiert er gegen die „Amerikanisierung“, lobt die sowjetische Planwirtschaft und zitiert huldigend Lenin.

Das Anschauungsmaterial und die Wirtschaftsdaten, die er aufbietet, sind beeindruckend, aber die Schlüsse, die er daraus zieht, oft fragwürdig. Offenbar war dies der Grund, die seine Söhne Michael und Peter von Brentano bei der Einwilligung zur Wiederveröffentlichung zögern ließ, wie sie im Vorwort schreiben. Im Einklang mit der KPD sah Bernard von Brentano in der SPD den Hauptfeind, sie habe seit 1914 alles Üble toleriert und agiere faschistisch.

Hitler ist für ihn ein Kleinbürger in Diensten des Kapitals. Was für ein Irrtum. Doch Brentano war nicht der einzige Linke, der die Nationalsozialisten unterschätzte.

Das Buch wurde 1933 verboten, der Autor emigrierte in die Schweiz. Sein Bericht ist ein großes Dokument über den Absturz der taumelnden Republik.

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