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Bernard Haitink und die Philharmoniker kennen sich seit 50 Jahren.

©  Monika Rittershaus

Bernard Haitink: Herrscher über ein flüchtiges Reich

Der 90-jährige Bernard Haitink dirigiert die Berliner Philharmoniker mit Mozart und Bruckner - und von Abschied will niemand sprechen.

Obwohl niemand offen darüber spricht – dies ist ein Abend des Abschieds. Bernard Haitink, unlängst 90 Jahre alt geworden, tritt noch einmal ans Dirigentenpult der Berliner Philharmoniker. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist der schweigsame Niederländer, der den Scharoun–Bau noch als neu eröffneten Circus Karajani kennt, immer wieder zurückgekehrt. Heute sieht die Philharmonie erstaunlich verändert aus, obwohl nach Willen des Denkmalsschutzes eigentlich immer alles beim Alten bleiben soll. Eingänge und Säulen präsentieren sich frisch mit neonfarbenen Bänderkaskaden beklebt, die die Kraftwellen der anbrechenden Ära Petrenko symbolisieren sollen. Das Orchester befindet sich nach den Worten seines Vorstands im Zustand der „Schockverliebtheit“, jede Begegnung mit dem neuen Chef setzt eine Flut von Emotionen frei; sie münden in Konzerte, die man nicht mehr vergisst.

Inmitten dieses Umbruchs, in dem so leidenschaftlich wie lange nicht mehr um Interpretationen gerungen wird, tritt sehr langsamen Schrittes ein großer Musiker ans Pult, der lieber von Wiedergabe spricht. Der nichts forcieren, sondern der Musik einen Raum zur Entfaltung geben will, der dem großen Strom ein Flussbett weist. Simon Rattle wurde als Teenager in London zum Haitink-Fan, auch heute noch sind junge Musiker fasziniert von diesem Dirigenten, der nur wenige gestische Einwürfe braucht, um ein Orchester in allen Lagen zum Klingen zu bringen. Es sei schwer, unter ihm falsch zu spielen, heißt es anerkennend. Nach mehreren Stürzen verordnet sich Haitink mit Ablauf des Sommers ein einjähriges Sabbatical. Ans Aufhören mag er nicht denken, denn: „Ein Leben ohne Dirigieren wäre miserabel“.

Wellen branden durch die Philharmonie

Das Programm des Abends verrät, dass das Abschiednehmen den stets betont unsentimentalen Maestro dennoch umtreibt. Mozarts letztes Klavierkonzert hat jegliche extrovertierte Attitüde abgestreift, und im Zentrum von Bruckners Siebter hebt ein herzzerreißender Trauergesang auf den Tod des zutiefst verehrten Richard Wagner an. Als Solisten hat Haitink den Briten Paul Lewis mitgebracht, einen Schüler Alfred Brendels, der bei den Philharmonikern sein Debüt gibt. Doch der Funke will bei Mozart nicht überspringen, obwohl Platz gewesen wäre, weil Haitink den Streichern einen beinahe durchsichtigen Klang verordnet. Lewis aber spielt seltsam manieriert, jeder Natürlichkeit gleich selbst wieder den Boden entziehend und letztlich zu wenig beherzt. Dass er mehr zu bieten hat, lässt seine späte Schubert-Zugabe erahnen.

Haitink dirigiert bevorzugt Bruckner in dieser Jubiläums-Saison, die in Salzburg mit den Wiener Philharmonikern ausklingt. Auch dort wird es die Siebte sein, die einzige Symphonie, die von den skrupulösen Revisionen des Komponisten verschont geblieben ist. Ihre Kraft entfaltet sich unter Haitinks Fingerzeig mühelos, schwingt sich empor, sinkt nieder, um als neue Welle in die vollbesetzten Sitzreihen der Philharmonie zu branden. Die Spannung reißt selbst dort nicht ab, wo der Dirigent die Langsamkeit der Musik vollends auskostet. Nur die dramatischen Höhepunkte stellt er sich wohl noch lauter vor, als selbst engagierte Philharmoniker sie abrufen können. Fern bleibt auch dieser Haitink-Wiedergabe jeglicher Gefühlsüberschwang, der einkomponierte Schmerz ist nur eine vorübergehende harmonische Reibung – und alles Vergängliche nur ein Gleichnis.

Am Ende applaudiert das Orchester seinem Ehrenmitglied, das Publikum steht, und Haitink kommt noch einmal heraus auf die leere Bühne. Gestützt auf einen schwarzen Stock mit Silberknauf blickt er erschöpft und dankbar in den Saal, ein Herrscher über ein flüchtiges Reich, eine Momentaufnahme in Schwarzweiß. Draußen flimmern schon die Neonbänder.

Noch einmal heute, Samstag, 19 Uhr. Live-Übertragung in der Digital Concert Hall.

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