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Lana Turner spielt in George Sydneys Abenteuerfilm "The three Musketeers" (1948) die Lady de Winter. Kameramann Robert H. Planck wurde in der Kategorie Beste Kamera/Farbe für einen Oscar nominiert.

© George Eastman House Rochester, 1948 Turner Entertainment.

Berlinale: Retrospektive: Über dem Regenbogen

Die RETROSPEKTIVE feiert den 100. Geburtstag des legendären Farbverfahrens Technicolor. Die erste kommerziell erfolgreiche Technik ist bis heute unerreicht.

Ein kleines Mädchen, ein struppiger Hund. Das soll der Stoff sein, aus dem die Träume sind? Aber ja. Wie sehr, das wissen sie selbst noch nicht. Weder Judy Garland, die das Farmerskind Dorothy spielt, noch Victor Fleming, der in der von Pannen und Personalwechseln gepeinigten MGM-Produktion „The Wizard of Oz“ schließlich den Credit für die Regie trägt, waren sich 1939 der prophetischen Tragweite des Drehbuchsatzes bewusst, den das Mädchen zum Hund spricht: „Toto, I’ve a feeling we’re not in Kansas anymore.“

Inzwischen ist das ein geflügeltes Wort, das mit dem kulturellen Bewusstsein Amerikas so verwachsen ist wie die magischen rubinroten Schuhe, die Dorothy durch alle Gefahren über die leuchtend gelbe Backsteinstraße zur grün funkelnden Smaragdstadt tragen. Diese explodierende Farbfülle des Landes über dem Regenbogen ist es, die das Staunen, ja den Schock ausmacht. Der Farbwechsel vom in Schwarz-Weiß gehaltenen langweiligen Kansas ins exotische Oz ist die Schlüsselszene des Musicals. Ein ästhetisches Mittel, das die Reaktion der Zeitgenossen in die Filmerzählung aufnimmt. Und ein Symbol für die Erweiterung der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten weit über diesen Film hinaus. Mit dem legendären, zum Synonym für Farbe im Kino schlechthin gewordenen Verfahren Technicolor ist eine technische und künstlerische Grenze genommen. Rund vierzig Jahre nach Erfindung des Kinos sind alle Farben des Regenbogens im Film angekommen.

Technicolor Motion Picture brauchte zwanzig Jahre für ihr Verfahren

Nicht, dass Farben dort nicht schon vorher eingesetzt worden wären. Seit 1900 wurden mehr als 50 grundverschiedene Farbverfahren entwickelt, wie 1988 schon die Berlinale-Retrospektive „Color – Die Geschichte der Farben“ aufdröselte: additive, subtraktive, mechanisch-optische, fotochemische. Entgegen dem heutigen Glauben, war die Stummfilmära nicht schwarz-weiß. Durch Hand- oder Schablonenkolorierung, Farbbäder und Tönungen wurden ausgewählte Szenen, seltener ganze Filme gefärbt. Allerdings stand nur ein begrenztes, meist monochromes Farbspektrum zur Verfügung. Mit der vollständigen Palette natürlicher Farben hatte das noch nichts zu tun. Zumal sich mit dem Aufkommen des Tonfilms 1928 zugunsten einer besseren Tonqualität wieder der Anteil von Farbkopien in den Kinosälen reduzierte. Guten Ton und gute Farbe konnten die bis dato gängigen Aufnahme- und Wiedergabeverfahren noch nicht leisten.

Auch die 1915 von Herbert T. Kalmus, Daniel Comstock und W. Burton Wescott in Boston gegründete Technicolor Motion Picture Corporation benötigte zwanzig Jahre, um Technicolor Nr. 4 zu entwickeln. Dieses erste kommerziell erfolgreiche und in seiner Farbbrillanz bis heute unerreichte Verfahren vereinte Rot, Grün und Blau in einem auf Schwarz-Weiß-Material aufgebrachten Druckverfahren. Das war ebenso kostspielig wie die zur Aufnahme nötige Spezialkamera mit drei Filmstreifen oder die von der Firma Technicolor vertraglich mitgelieferten Kameramänner und Farbberater, revolutionierte im Ergebnis aber die Ästhetik des Hollywoodfilms von 1935 bis 1955.

Disney als Vorreiter

Von den neuen Möglichkeiten der Bildkomposition profitierte zuallererst der Animationsfilm – noch vor Rouben Mamoulians „Becky Sharp“, dem ersten abendfüllenden Technicolor-Spielfilm von 1935. Genauer gesagt Walt Disney, der sich von der Skepsis der Zeitgenossen nicht einschüchtern ließ und Dreifarben-Kurzfilme produzierte – die damals auch in Deutschland gefeierten „Silly Symphonies“. Aus dieser Serie zeigt die Retrospektive die spaßige Ostereierparade „Funny Little Bunnies“ von 1934.

Die von Disney in teils experimentalfilmhafter Spielfreude entwickelte Verschmelzung von Licht, Farbe, Form und Bewegung sowie die Inspiration der Technicolor-Farbkonzepte durch die europäische Malerei sind Muster, die sich auch in einem Realfilmgenre wiederfinden: dem Musical. „Glorious Technicolor“, das von der Deutschen Kinemathek herausgegebene Begleitbuch (Bertz + Fischer Verlag, 180 S., 25 €) zur 30 Werke umfassenden Geburtstagsretrospektive widmet dem Musikfilm denn auch ein eigenes Kapitel. Und in der Tat ist es aufregend zu sehen, mit welcher farblichen Fabulierlust Nachkriegsmusikfilme wie Howard Hawks’ „Gentlemen prefer Blondes“ oder Stanley Donens „Singin’ in the Rain“ arbeiten. Gene Kelly tanzt sich in letzterem durch Film-im-Film-Traumsequenzen, in denen Kostüme und gemalte Theaterkulissen zu sagenhaft tiefen und abstrakten Studiolandschafen verschmelzen. In diesen Filmen stehen die mal pastelligen, mal schreiend bunten Farben gleichberechtigt neben Stars wie Kelly, Marilyn Monroe, Leslie Caron oder Cyd Charisse. Ja, die Farbe ist der Star. Was mancher Produktion wiederum Ärger mit den Regularien der Firma Technicolor einbrachte, die keineswegs einen überopulenten, dominanten Einsatz von Rot, Blau, Grün favorisierte. Technicolor wollte, dass die Farben die Stimmung oder den Ton der Geschichte unterstützen.

Ronald Neame nahm Technicolor den Glanz

„Restrained mode“ nannte sich dieser subtile, auf Spannungsaufbau durch ausgewählte Farbkontraste und die Betonung bestimmter Kostüm- oder Ausstattungsdetails setzende Stil. So zu sehen in Western wie John Fords „She wore a yellow Ribbon“ (1946), in Melodramen wie John M. Stahls „Leave her to Heaven“ (1945) oder in einigen der in Großbritannien entstandenen Technicolor-Filme.

Etwa David Leans Familienchronik „This happy Breed“. Sie spielt zwischen den Weltkriegen in einem düsteren Londoner Reihenhaus und steht exemplarisch für die realistische Verwendung von Technicolor. Union-Jack-Wimpel, Girlanden oder Hutschleifen leuchten in satten Farben, sonst dominiert Graubraun. So gelang es Kameramann Ronald Neame, Technicolor den Glanz zu nehmen. Auch Produktionsleiter Anthony Havelock-Allan bestand auf Dreifarben- Material. Sonst entstünde der Eindruck „eines kleinen, grauen Bühnenstücks über eine kleine, graue Familie, das wie ein kleiner, grauer Film aussähe“. Genau das jedoch ist die Einfache-Leute-Saga dank der Technicolor-Akzente nicht.

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