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Gegner der Krim-Besetzung. Der 43-jährige ukrainische Regisseur Oleg Senzow bei der Vorabpremiere von „Nomera“ im Maxim Gorki Theater.

© dpa/Jens Kalaene

Berlinale 2020: Was Oleg Senzow zu sagen hat

Nach der Freilassung aus russischer Haft: eine Begegnung mit dem ukrainischen Regisseur Oleg Senzow. Seine Politparabel „Numbers“ läuft auf der Berlinale.

Rote Banner wehen über die leeren Betontribünen eines Stadions. Die Szenerie ist erkennbar sowjetisch – und grotesk. Menschen, die keinen Namen tragen, nur Nummern von eins bis neun, taumeln durch den Tag, beobachtet von schwarzen Schergen. Die „Nummern“ versammeln sich zum Gespräch, zu bizarren Ritualen der Nahrungsaufnahme und allabendlich zu einem absurden Wettlauf.

Alles geht nach immer gleichen Regeln vor sich. Sie sind in einem unförmigen Buch festgelegt, das niemand gelesen hat. Ständig bricht etwas in die starren Abläufe ein. Regelverletzungen summieren sich, bis sie schließlich selbst mit nackter Gewalt nicht mehr zu beherrschen sind. Es kommt zum Umsturz. Doch der Moment der Befreiung währt nur kurz, bevor alles nur noch schlimmer wird.

Der Film „Nomera – Numbers“ des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow handelt vom Leben in einer geschlossenen Gesellschaft und dem Scheitern des Aufbegehrens. Sofort ist man versucht, das als Allegorie auf die jüngste Geschichte seiner Heimat, der ukrainischen Halbinsel Krim, zu lesen: lange sowjetisch, ein kurzer Moment des Aufbruchs in eine liberalere Gesellschaft, dann 2014 die russische Okkupation.

Vier Jahre war Oleg Senzow in einer Strafkolonie inhaftiert, im September 2019 kam er über einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine frei - nachdem er 2018 während der Fußball-WM in Russland vergeblich in Hungerstreik getreten war. Seit seiner Verhaftung engagierten sich zahlreiche internationale Institutionen, Kulturschaffende und Politiker für die Freilassung des Filmemachers und Maidan-Aktivisten, darunter Frankreichs Premier Emmanuel Macron.

Die Lesart einer Allegorie sei ihm zu eng, sagt Senzow in Berlin, beim Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er habe das Theaterstück „Nomera“ schon fast drei Jahre vor der russischen Annexion geschrieben. Welche Wendung die Geschichte nehme, sei damals nicht abzusehen gewesen. Er habe Verhaltensmuster unter, wenn man so will, sowjetischen Bedingungen beschreiben wollen. Tatsächlich geht es in seinem Film um nicht weniger als die großen Spannungsfelder zwischen Anmaßung und Anpassung, Verstellung und Demütigung, Verzweiflung und Aufbegehren. "Numbers" feierte am Dienstag im Maxim Gorki Theater Berlin-Premiere. Am Freitag ist der Film im Haus der Berliner Festspiele wieder zu sehen, im Rahmen der 70. Berlinale.

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Senzow spricht russisch. „Ich bin auf der Krim geboren“, sagt der 43-Jährige, „ich bin Bürger der Ukraine, das ist mein Land.“ Russisch ist seine Muttersprache. Die Eltern waren in den 70er Jahren aus dem Ural auf die Krim umgesiedelt. Es sei ihm wichtig zu erklären, sagt er, dass es in dem Krieg in seinem Land nicht um Russen gegen Ukrainer gehe – oder umgekehrt. „Es ist ein Konflikt zwischen zwei Lebensweisen. In Russland rekonstruiert Putin die Sowjetunion. Mein Film handelt auch von dieser Sowjetunion. In der Ukraine will eine Mehrheit eine andere, eine demokratische Gesellschaft.“

20 Jahre Lagerhaft: Das Urteil galt nicht ihm persönlich, sagt Senzow

Sein Stück habe lange im Schreibtisch gelegen. „Es gab wenig Interesse daran, aber ich habe immer geglaubt, dass ich wichtige Sachen zu sagen habe“, betont Senzow selbstbewusst. „Als ich dann im Gefängnis saß, bekam ich plötzlich Aufmerksamkeit.“ Freunde hätten sich an ihn gewandt, sie wollten den Film realisieren. In den Credits heißt es nun: ein Film von Oleg Senzow, in Zusammenarbeit mit Akhtem Seitablajew.

Nach der Krim-Okkupation war Senzow zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Das Urteil habe nicht ihm persönlich gegolten, ist er überzeugt. „Es ging darum, Dreck auf die Ukraine zu werfen. Ich habe nur in das Bild gepasst, dass für den Schauprozess gemalt worden ist“: ein Ukrainer, der gegen die Okkupation protestiert, mit engen Verbindungen zu den Aktivisten der Maidan-Revolution in Kiew. „Sie brauchten jemanden, um den Eindruck zu erwecken, da formiert sich Widerstand auf der Krim, der einen Krieg gegen Russland vom Zaun brechen will.“

Im Gefängnis habe er dann viel Zeit gehabt, sich mit der Verfilmung zu beschäftigen. „An dem Text von 2011 habe ich nichts verändert“, versichert er. Verbindung mit dem Filmteam habe er nur über Briefe gehabt. Als Bote fungierte der Anwalt, die einzige Person, mit der er direkten Kontakt haben durfte. „Ich habe Ideen aufgeschrieben, von draußen kamen Briefe mit Notizen, manchmal auch mit Szenenfotos in Schwarz-Weiß zurück. „Sie haben es auch mit Videoclips versucht, aber die waren verboten“, sagt Oleg Senzow.

Szene aus "Numbers" von Oleg Senzow.
Szene aus "Numbers" von Oleg Senzow.

© 435 Films / Apple Film Production / Česká Televize / ITI Neovision / Ministry of Culture of Ukraine

Den fertigen Film hat der Künstler erst nach seiner Freilassung gesehen. Das Ende seiner Haft über einen Gefangenenaustausch habe er übrigens so nicht gewollt, sagt Senzow. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich bin ich glücklich, wieder frei zu sein.“ Doch er habe sich vorgestellt, als Letzter ausgetauscht zu werden. „Ich wusste, dass ich inzwischen ziemlich bekannt bin. Ich habe gefürchtet, wenn ich einmal frei bin, dann wird das Interesse der Öffentlichkeit an den anderen Kriegsgefangenen erlöschen.“ Er erinnert daran, dass zahlreiche Krim-Tataren in russischen Gefängnissen sitzen. „Und im Osten der Ukraine sind 300 Landsleute in den Händen der Separatisten.“ Dort gebe es weiterhin Gefechte, die Krim sei immer noch besetzt.

Senzow möchte beides, aber getrennt: seine künstlerische und seine politische Arbeit

Aus den Briefen, die er im Gefängnis erhielt, habe er eine große Solidarität gespürt. Sogar viele Russen hätten ihm geschrieben. Und die Unterstützung auch der Berlinale habe ihn sehr bewegt. Gerade in Deutschland aber gibt es doch auch Verständnis für die Argumentation Putins, die Krim sei „ewige russische Erde“. Das sei historischer Unsinn, erläutert Senzow: „Die Krim hat eine mehr als 2000-jährige Besiedlungsgeschichte. Unterschiedliche Völker lebten hier, unterschiedliche Staaten erhoben Ansprüche. Erst Skythen, dann Griechen, Genuesen, 600 Jahre herrschten die Tataren. Dann kam die russische Eroberung – und keine 300 Jahre russischer Herrschaft.“

Senzow ist inzwischen ein politischer Aktivist. Seine künstlerische Arbeit beeinflusse das in keiner Weise: „Ich mache kein politisches Kino. Aber jetzt, wieder in Freiheit, kann ich doch auch nicht sagen: Danke, aber ab jetzt widme ich nur noch meiner Kunst.“ Er möchte beides, aber getrennt.

Künstlerisch gehe es jetzt für ihn darum, „die fünf verlorenen Jahre aufzuholen“. Er arbeite an einem neuen Film. Seine Popularität helfe dabei. Seinen ersten Film "Gamer" hat er unmittelbar vor dem Maidan mit kleinem Budget, faktisch mit eigenem Geld gemacht. Im Moment ist die Finanzierung von Projekten für ihn leichter geworden.
Haus der Berliner Festspiele, 21. 2., 12 Uhr; Cubix 6, 25. 2., 15 Uhr

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