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Susanne Kerckhoff

© Getty

Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg: Charakter braucht ein starkes Rückgrat

Als die Mörder noch in der Stadt waren: Susanne Kerckhoff hat 1948 in ihren beeindruckenden „Berliner Briefen“ die Trümmer-Ära festgehalten.

Als vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg endete, fühlten sich die meisten Deutschen besiegt und gedemütigt. Von Verantwortung wollten sie nichts wissen. Nazis, das waren die anderen.

Daran erinnerte zuletzt der Schriftsteller und Filmemacher Georg Stefan Troller, 98 Jahre alt. Er stammt aus einer jüdischen Wiener Familie, entkam über die Tschechoslowakei und Frankreich nach Amerika und gelangte 1945 als Dolmetscher in US-Uniform nach Süddeutschland. In Dachau war er dabei, als Anwohner durch das Konzentrationslager geführt wurden, vorbei an Leichenbergen.

„Das Wort Befreiung habe ich damals nie gehört“, erzählte Troller in einem Interview. Die Deutschen, mit denen er sprach, beteuerten, Regimegegner gewesen zu sein. Besonders verbreitet sei der Spruch gewesen: „Leider hat der Führer nichts davon gewusst.“ Wenn selbst Hitler nichts vom Holocaust gewusst hatte – wie konnte man dann dessen Untertanen beschuldigen?

Wer nicht im KZ war, der ist mitverantwortlich

Nichts gewusst zu haben, nicht mitgemacht, nur mitgelaufen zu sein, so lautete noch jahrzehntelang die Selbstentlastung. Aber es gab Ausnahmen, bereits unmittelbar nach dem Krieg. „Wer im Frühling 1945 nicht aus dem Gefängnis oder dem Konzentrationslager kam, ist mitverantwortlich“, schrieb Susanne Kerckhoff 1948. „Wer in sich selbst hineinsieht, der wird stumm.“ Kerckhoffs „Berliner Briefe“, die jetzt im auf Wiederausgrabungen spezialisierten Verlag Das Kulturelle Gedächtnis noch einmal herauskommen, sind ein beeindruckendes Zeitdokument. Sie wirken wie eine Flaschenpost aus einer aufgewühlten Zwischenzeit, in der sich auch einstige Täter als Opfer sahen und neue Kämpfe in Form des Kalten Kriegs begannen. Selbstkritisch in sich hineinzusehen und dann aus Scham stumm zu werden, das war mutig.

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Susanne Kerckhoff, 1918 als Tochter einer Musikerin und eines Germanisten in Berlin geboren, hatte im „Dritten Reich“ durchaus so etwas wie Karriere gemacht. Sie wurde als jüngstes Mitglied in die Reichsschriftumskammer aufgenommen, veröffentlichte Unterhaltungsromane, studierte Philosophie, heiratete einen Buchhändler und bekam mit ihm drei Kinder. Zum Regime blieb sie auf Distanz und versteckte jüdische Freunde und Bekannte im Keller ihres Köpenicker Elternhauses. Im Buch schildert sie eine beklemmende Begegnung auf dem Kurfürstendamm. Sie trifft einen Herrn, der ihr auszuweichen versucht. Als sie ihn begrüßt, hält er den Hut vor dem Stern auf seiner Brust, den ab 1941 alle Juden tragen mussten, wenn sie das Haus verließen. Kerkhoff spricht von der „tödlichen Gleichgültigkeit des Asphalts“ und von ihrer Irritation: „Plötzlich merkte ich, dass ich ihm leid tat.“ Am nächsten Tag will sie ihn in der Uhlandstraße besuchen, aber die Gestapo ist vor ihr dagewesen und hat seine Wohnung verplombt.

Sie sieht sich als Teil des Trümmeratems

Bei dem Herrn handelt es sich um den Vater des Freundes, an den die 13 Briefe gerichtet sind. Aber es bleibt ein Monolog, seine Antworten fehlen. „Helene“ nennt sich die Erzählerin, eine Lehrerin, in der Kerckhoff zu erkennen ist. Poetisch stellt sie fest, ein „Teil des Trümmeratems von Berlin“ zu sein, und beharrt doch darauf, in „kein Lager“ zu gehören. Außer ins Lager derer, „die sich in keiner Weise beruhigt haben“. Der Riss, der die Stadt in West und Ost trennte, ging mitten durch sie hindurch. Als Schülerin hatte sie sich der Sozialistischen Arbeiter-Jugend angeschlossen, die der SPD nahestand, 1948 trat sie in die SED ein – und haderte mit beiden Parteien. Für Hans, den jüdischen Vertrauten, dem Helene nach Paris schreibt, dürfte es ein Vorbild geben, das Herausgeber Peter Graf allerdings nicht identifizieren konnte.

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Kerckhoff hört genau hin, beobachtet scharf und bleibt skeptisch. Statt eines wirklichen Neuanfangs sieht sie bloß eine „Formal-Demokratie“, in der sich die „Schaukelpferdchendeutschen“ jeweils der stärkeren Seite zuwenden. Dazu passen die opportunistischen Witze und Redensarten, die sie auf der Straße aufschnappt oder in der Zeitung liest: „In der Nazizeit hat uns einer gezwiebelt – jetzt zwiebeln uns vier!“ Einen „schuldbewussten Nazi“ habe sie noch nicht getroffen.

Die Kritik galt auch ihr selbst

Bei einem Treffen des Abiturjahrgangs schwärmt die ehemalige BDM-Führerin – „ärgste Antisemitin unserer Schule“ – von ihrem neuen Job als Dolmetscherin bei den Amerikanern. „Wen repräsentiert unsere Schulklasse? Ist sie typisch?“, fragt Kerckhoff. Die Töchter gutbürgerlicher Familien des Berliner Westens glauben, stets anständig gewesen zu sein, halten Berichte über die Konzentrationslager für aufgebauscht und berufen sich zur Erbauung nun statt auf die Innerlichkeitsliteratur von Hamsun oder Carossa auf „westliche Kulturen“ und das Christentum. Feige gewesen zu sein, von diesem Vorwurf nimmt sich die Schriftstellerin nicht aus. Ihr „charakterliches Rückgrat“ habe sich als nicht so „köstlich steif“ erwiesen, wie sie es sich einbildete.

Neben viel Zorn spürt man in diesen Texten auch den Enthusiasmus einer jungen Frau, die mithelfen möchte am Aufbau einer anderen, besseren Welt. Aber sie saß immer noch oder schon wieder zwischen allen Stühlen. Wenn Kerckhoff die Parolenhaftigkeit des verordneten Antifaschismus beklagt, ist das auf die SED gemünzt, ihre eigene Partei. Sie beklagt Versorgungsmängel, neues Duckmäusertum und den „monotonen Lob- und Preisgesang auf Russland“.

Trennung von Mann und Kindern

Das Kriegsende hatte die Schriftstellerin mit ihrer Familie im Emsland erlebt, 1946 trennte sie sich von ihrem Ehemann und den Kindern und kehrte nach Berlin zurück. Ihre Berliner Briefe kamen im Westteil der Stadt heraus, im Wedding-Verlag, der von dem Schriftsteller Wolfgang Goetz gegründet worden war. Bald darauf stieg sie im Ostteil zur Feuilletonchefin der „Berliner Zeitung“ auf. Sie blieb unangepasst und wurde wegen „schwankender ideologischer Haltung“ getadelt. Im März 1950 starb sie durch Suizid.

Weniger Tage zuvor hatte Susanne Kerckhoff in der „Berliner Zeitung“ ein „Volkslied“ veröffentlicht. Zwei Kinder verirren sich wie Hänsel und Gretel im Wald, wo sie im „funkelnden Eis“ zwischen schönen Tannen erfrieren. Das Gedicht ist inzwischen Schulstoff, aber im Literaturkanon ist Kerckhoff noch nicht angekommen. Die Berliner Briefe gehören in eine Reihe mit den Kriegs- und Nachkriegsaufzeichnungen von Ruth Andreas-Friedrich („Der Schattenmann“) und Marta Hillers („Eine Frau in Berlin“). Gerne möchte man mehr von Kerckhoff lesen. Im nächsten Jahr soll ihr Roman „Die verlorenen Stürme“ (1947) wiederaufgelegt werden (Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Graf. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 Seiten, 20 €).

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