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Énard-Roman "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten": Bau eine Brücke, Michelangelo!

von Zaubernächten am Goldenen Horn.

Die Nacht geht nicht in den Tag über. Sie verbrennt in ihm. Man legt sie auf den Scheiterhaufen der Morgenröte. Und mit ihr zusammen ihre Bewohner, die Trinker, Dichter, Liebenden. Wir sind ein Volk von Verbannten, von Todgeweihten.“ Ein Buch, das gleich zu Beginn einen solchen Ton anschlägt, hat sich eine Menge vorgenommen und scheut sich nicht davor, das auch mit allen Mitteln der pathetischen Hochpoesie zu erreichen. Noch vor diesen Sätzen findet sich ein Zitat von Rudyard Kipling, dem der Titel des Romans geschuldet ist. Es fordert dazu auf, Märchen zu erzählen und dabei die Liebe nicht zu vergessen: sich etwas auszudenken, was es nie gegeben hat, das wir aber zu gerne hören, wenn es denn nur so erzählt wird, dass es sich gar nicht anders abgespielt haben kann.

Was aber, wenn man sich Figuren vorgenommen hat, die nicht herbeifantasiert sind, sondern der großen Geschichte gehören? Und was, wenn etwas von diesen erzählt wird, von dem wir nur zu gut wissen, dass es sich eben nicht ereignet hat? Einen Roman, der uns erzählt, dass Goethe nie aus Italien zurückgekehrt ist? Dass Rimbaud noch fünf gewaltige Afrika-Romane geschrieben hat, nur leider alle verschollen?

Warum nicht? In der Literatur – und nicht zuletzt deswegen lieben wir sie ja – ist schließlich alles Undenkbare denkbar, solange es nur so ausgedacht ist, dass uns der Zauber des Erzählens zumindest für die Dauer der Lektüre das Unmögliche als Ereignis glaubhaft macht. Zum Beispiel, dass Michelangelo Buonarotti im Jahre 1506, als er gerade durch seinen David erste Berühmtheit erlangt hatte, eine Einladung des Sultans Bayezid II. erhält, nach Konstantinopel zu kommen (das erst ein halbes Jahrhundert zuvor Istanbul geworden war) und dort eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen.

Was für ein Einfall! Einer der gewaltigsten Künstler des christlichen Abendlands in der aufblühenden Hauptstadt des Islam: Üppiger kann das Material für eine Was-wäre-gewesen-wenn-Geschichte kaum sein: westliche Bau- und östliche Ingenieurskunst, dazu ein Hauch 1001 Nacht, und das alles in der Wahrnehmung Michelangelos. Nichts davon.

Der 1972 geborene Franzose Mathias Énard versucht gar nicht erst, mit stimmigen Details Glaubwürdigkeit zu erzielen. Wenn er sich etwas nicht vorgenommen hat, dann das, nämlich einen historischen Romans zu schreiben. Vielmehr überlässt er sich mit Feuer und Flamme seinem Einfall, freut sich, dass ein paar Umstände der Historie gut dazu passen, und legt los: Papst Julius II. zahlt nicht, mit dessen Grabmal geht auch nichts weiter, und behandelt wird man im Vatikan als Künstler wie ein Domestik. Zudem hat schon Leonardo dem Sultan eine Brücke entworfen, die jenem nicht gefallen hat – und der große Vorgänger Leonardo, sagt Énard, gefällt wiederum Michelangelo nicht. Die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Hohen Pforte sind gerade friedlich, die vor kurzem aus Spanien vertriebenen Sepharden machen die Stadt am Bosporus so farbig wie die italienischen Kaufleute, und dass Michelangelo außer ein paar unbedeutenden Zeichnungen das Thema Brücke nie sonderlich beschäftigt hat, das kann für den Drauflos-Erzähler nur ein Vorteil sein.

Der aber nicht genutzt wird. Denn leider, leider interessiert sich Mathias Énard zwar für das bunte Treiben in der orientalischen Stadt, für Intrigen und heimliche Liebe, aber bedauerlicherweise nicht für Michelangelo. Er schildert ihn als einen etwas verklemmten, egozentrischen Menschen, den außer dem Wunsch nach Ruhm und Geld und gelegentlichen Wutanfällen wenig auszeichnet. (Was den Vorteil hat, dass im Lauf des Erzählens die Geschichte jederzeit dahin gedreht werden kann, wohin man sie haben möchte.) Nichts spürt man von der philosophischen und künstlerischen Energie dieses Ausnahmemenschen, und für Énard bezeichnend ist, dass Michelangelo die Spitzenidee für die gewünschte Brücke die längste Zeit nicht kommen will, dann aber auf einmal gelingt, nach einer Zaubernacht mit einer Andalusierin, die dem erzschwulen Michelangelo die Verstocktheit löst. So geht das nämlich mit der Inspiration.

Pascha und Sultan sind höchst angetan, die Bauarbeiten beginnen, und alles könnte auf wunderbarste Weise gelingen. Aber statt uns zu sagen: Die Brücke wurde gebaut, und sie wurde ein Meisterwerk, fahrt hin und schaut sie euch an – statt dessen wird uns von einem gewaltigen Erdbeben erzählt, das die halbe Stadt ebenso wie die halbfertige Brücke dem Erdboden gleichgemacht hat, ein Erdbeben, für das nichts als der fade Umstand spricht, dass es dieses Beben 1509 wirklich gegeben hat. Ein Lump, wer jetzt noch fragen wollte, warum denn von all den Entwürfen und Modellen Michelangelos nur eine extra für dieses Buch fingierte Zeichnung auf uns gekommen ist.

Wer nicht viel wusste von dem großen Florentiner und auch nicht viel von ihm wissen will, außer dass er sehr berühmt ist, der wird diesen munteren Roman, für den Ènard 2010 den Prix Goncourt des lycéens erhielt, nicht ungern lesen. Wer aber findet, dass man einer solchen Figur doch etwas konzentrierter gerecht werden sollte, statt sich mit der gängigen Retro-Spezerey pseudohistorischer Romane à la „Koste ein wenig vom Duft meiner Haut" zufriedenzugeben. Und wer findet, dass ein Satz wie „eines Tages wirst du dich selbst der Gegenwart hingeben, und sei es im Tod“ das Denkbedürfnis des Lesers eines Michelangelo-Romans nicht ganz befriedigt, der wird wohl eher sagen müssen, dass dies denn doch nicht sehr viel mehr sei als ein hübsches kleines Machwerk.

Mathias Énard:

Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. Roman. Aus d. Französischen von Sabine Müller und Holger Fock. Berlin Verlag, Berlin 2011. 176 S., 17,90 €.

Jochen Jung

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