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ARCHIV - Die Odenwaldschule (ODS) in Ober Hambach bei Heppenheim in Hessen, aufgenommen am Dienstag (27.07.2010). Foto: Boris Roessler dpa/lhe (Zu dpa: "Erneut Kinderporno-Verdacht in Odenwaldschule - Lehrer gekündigt" vom 19.04.2014) +++(c) dpa - Bildfunk+++

© dpa/Boris Roessler

Avantgarde im Rückblick: Als sexuelle Gewalt ignoriert wurde 

Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft stellt sich ihrer Vergangenheit 

Eine Kolumne von Caroline Fetscher

Aufarbeitung braucht Zeit. Unter „Aufarbeitung“ versteht der Jargon der Gegenwart Prozesse, die sich verdrängten, vertuschten bis entgleisten Ereignissen der Vergangenheit widmet. Oft geht es dabei um die Vergangenheit von Institutionen.

Doch „Institution“ – was heißt das schon? Konkret geht es um Menschen, die als Individuen wie als Gruppe Verantwortung ignoriert haben. Für sie ist „Aufarbeitung“ ein eher unbequemer Begriff, auch, weil sie in der Regel an Außenstehende delegiert werden muss.

Andere Leute leuchten also mit Taschenlampen und Scheinwerfen in die Archive, entfernen Staub und Spinnweben, und finden Spuren, Belege oder klaffende Leerstellen.  

Für die 1964 gegründete Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), das zentrale Netzwerk der Erziehungswissenschaft, wurde das Wiener Institut für Konfliktforschung damit beauftragt, die Rolle der DGfE „in der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch pädagogische Professionelle“ zu untersuchen.

Bittere Wahrheiten traten ans Licht. Symptomatisch sind insbesondere zwei Fälle. Offenbar aus Scheu, die Reformpädagogik zu verraten, hatte die DGfE den Verdacht der Pädokriminalität des Leiters der Odenwaldschule, Gerold Becker, ignoriert. Auf taube Ohren stießen bei der DGfE auch Warnungen zum prominenten Sozialpädagogen Helmut Kentler, der unter anderem für die Unterbringung straffälliger Jungen bei „pädagogisch interessierten Päderasten“ plädierte, wie ihm die taz 1993 vorwarf.

Der Bericht des Wiener Instituts, unter Federführung von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr, wurde 2022 erstellt und ist jetzt öffentlich.

Zum Staunen ist der Kernbefund, dass sich vor der „Zeitenwende“, die mit der öffentlichen Debatte zum Missbrauch Minderjähriger 2010 anbrach, so gut wie „kein Widerhall“ auf Warnsignale findet. Kiloweise schien man Ohropax verbraucht zu haben.   

Eine der Empfehlungen des Berichts lautete, die DGfE könnte dem Thema eine künftige Herbsttagung widmen. Just das tut sie nun. Im November 2023 tagt die DGfE mit einem beeindruckenden Programm im Bildungszentrum Erkner bei Berlin, den Eröffnungsvortrag: „Zum beredten Schweigen der Disziplin“ hält die Kindheitsforscherin Meike Sophia Baader. Auch im Innern der Erziehungswissenschaft kann die Aufarbeitung beginnen. Es wird Zeit.

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