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Welche Entscheidungen erzwingt die Pränataldiagnostik? Fötus-Figur in einer Petrischale (Symbolfoto),

© imago images / Christian Ohde

Autonomie und Gesellschaft: Der trügerische Wert der Selbstbestimmung

Weg mit den Stereotypen: Die Philosophin Barbara Schmitz untersucht, was ein Leben lebenswert macht.

Die Bioethik ist schon vor einer ganzen Weile in die Politikberatung eingewandert, und die Bücher zum Thema füllen Regalwände. Nicht selten konkurrieren dabei Grundrechtsgüter wie die Würde des Menschen mit der Berufsfreiheit oder der Selbstbestimmung – egal ob es um Interventionen in das vorgeburtliche Leben geht oder um Sterbehilfe. Autonomie, so die an der Universität Basel lehrende Philosophin Barbara Schmitz, sei inzwischen in diesem „Spiel der Werte eine Art Trumpfkarte“, die alle anderen Werte aussteche.

[Barbara Schmitz: Was ist ein lebenswertes Leben? Philosophische und biografische Zugänge. Reclam Verlag, Ditzingen 2022. 200 Seiten, 16 €.]

Andere prinzipielle Fragen verblassen davor. Eine solche stellt die Autorin in ihrem von Behinderung, Alter und Suizid handelnden Buch in den Mittelpunkt. Die Frage „Was ist ein lebenswertes Leben?“ balanciert schon deshalb am Abgrund, weil am anderen Ende des Bewertungsschemas das keine graduellen Abstufungen duldende „lebensunwerte“ Leben steht.

Die damit verbundenen menschenfeindlichen Theorien, die Anfang des 20. Jahrhunderts „Ballastexistenzen“ identifizierten und nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland die Vorlagen lieferten, diese zu eliminieren, sind allzu bekannt. Auch deshalb, so Schmitz, scheut die Philosophie das Terrain und weicht lieber aus auf die Vermessung des „guten“ Lebens. Denn wer kann eigentlich darüber entscheiden, wann ein Leben lebenswert ist?

Was wären objektive Kriterien?

„Ich lebe gerne“, ruft die Autorin mehrmals im Blick auf den an schwerer Muskelschwäche leidenden Tim Steiner, der auf fremde Hilfe angewiesen ist und bald künstlich beatmet werden muss. Die Evidenz dieser Aussage kann durch kein objektives Kriterium, keine Norm widerlegt werden.

Der subjektive Zugang, daran lässt Schmitz schon durch den Untertitel ihres Buches keinen Zweifel, ist ihr nicht zu hintergehender Maßstab, geprägt vom Leben mit einem behinderten Kind, dem Suizid der Schwester und den Begegnungen mit Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. „Behindertenparadox“ nennt sich in der Forschung das Phänomen, dass Betroffene mit ihrem Leben zufriedener sind, als sie es, von der Gesellschaft gespiegelt, sein dürften. Hinter deren normativen Vorstellungen steckt auch die Abwehr von Ansprüchen, denn Wahlfreiheit kostet Geld.

Dieser Macht der Normen zu entgehen, ist schwer für Menschen, die diese nicht erfüllen können, selbst wenn „Defekt“ heute anders ausbuchstabiert und relativiert und in den kulturellen Modellen von Behinderung und Krankheit sogar völlig negiert und zur Konstruktion erklärt wird.

Die persönliche Tragödie, die sich in einem Wechselfall des Lebens realisiert, ist oft verbunden mit persönlicher Schuld und Scheitern (falsches Verhalten in der Schwangerschaft, versagt zu haben wie im Fall eines Suizids).

Menschen sind Sinn suchende Wesen, die alles als „Zeichen“ empfinden. Aber Sinn sei kein „Behälter“, kein Gegenstand, sagt die Philosophin, sondern Erfahrung, die dem Leben Kohärenz gibt und Identität schafft.

Idealisierte Formen der Selbstbestimmung

Auch ein Leben mit schwerer Beeinträchtigung kann sinnhaft empfunden werden, ohne es zu idealisieren. Eben diese Idealisierung macht Schmitz jedoch im Anspruch auf Autonomie aus, der sich inzwischen auch in höchstrichterlichen Urteilen niederschlägt. Sie unterscheidet zwischen einer idealisierten Form der Selbstbestimmung, die eine kognitiv entscheidungsfähige Person voraussetzt, und sozialer Autonomie, und eine graduellen und mehrdeutigen, die berücksichtigt, dass kein Mensch vollständig unabhängig lebt.

Eine Schwangere, die nach einem PraenaTest entscheiden soll, ob sie ein vermutlich behindertes Kind bekommen will, oder ein alternder Mensch, der aus Angst vor Demenz und schlechter Versorgung signalisiert, aus dem Leben gehen zu wollen, spannen das weite Feld auf, um das es hier geht. Nicht Alter oder Behinderung stiften die Unruhe, sondern die Bilder, die die Gesellschaft davon hat. Auch deshalb wird der Suizid in der Philosophie so überhöht.

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Was Schmitz in ihrem Buch dagegenhält, ist das inzwischen 22-jährige Leben mit der lebensfrohen Tochter Carlotta, die Gespräche mit Karl-Heinz Pantke, der sich trotz Locked-in-Syndrom im Leben eingerichtet hat, aber auch das unbegreifliche Verschwinden ihrer Schwester Ulla, die Verstörung nach deren Suizid.

Die Autorin erinnert an das Leibgedächtnis dementer Menschen und die Erlebnisräume derer, die sich nicht mehr äußern können und verteidigt die Innenperspektive gegen den Außenblick der Gesellschaft. Gerade im Suizid wird die Tragödie fassbar, in die das gewinn- und verlustrechnende Abwägen von Leben münden kann.

Vielleicht ist Schmitz’ Vorstellung von Hoffnung am Ende ihrer Überlegungen selbst leicht romantisiert, wie sie einräumt. Aber über die informierte Expertise und Analyse hinaus, die auch in besagten Regalwänden zu finden ist, berührt ihr Buch durch ihr reflektiertes Angefasstsein. Im philosophischen Fach ist das sonst selten.

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