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Burkhard Schittnys Videoarbeit „Dignity“ ist eine Hommage an die ungarische Künstlerin Ágnes Lukács, die ihre KZ-Erfahrung in Zeichnungen verarbeitete.

© Burkhard Schittny

Ausstellung zur NS-Zwangsarbeit: Erinnerungstrümmer bergen

Zwangsarbeit unter der NS-Herrschaft: Die Ausstellung „Missing Stories“ im Willy-Brandt-Haus versammelt Arbeiten aus Albanien, Serbien, Montenegro und Deutschland.

Wenn Kontrabässe schluchzen. Ihr tiefes Dröhnen begleitet kahlrasierte Frauen, während sie in Zeitlupe durch eine leere Fabrikhalle streift. Burkhard Schittnys Video-Installation verlangsamt zu Beginn der Ausstellung „Missing Stories“ den Atem auf das richtige Tempo, um die Leerstellen der Erinnerung zu betreten.

Schwarz-weiß, die Blicke auf den Boden gerichtet, mit karierten oder gestreiften Fetzen behangenen, versammeln sich die Frauen immer wieder zu Gruppen. Nur manchmal schauen zwei dunkle Augen direkt auf die BeobachterInnen und lassen keinen Zweifel, dass es diese Menschen in der Leere gab und gibt.

Viele der KünstlerInnen haben einen familiären Bezug zum Thema

Das Video ist eine Hommage an Ágnes Lukács, eine jüdische ungarische Künstlerin, die das Konzentrationslager Neuengamme überlebte und nach dem Krieg immer wieder eine Gruppe zusammengerückter Frauen zeichnete, die versucht, sich von dem gewalttätigen Hintergrund zu lösen. In zwei Akryl-Bildern von Schittny kehren die Frauen in der Mitte der Ausstellung noch einmal wieder. Hier stürmen düstere Wolken von oben auf ihre weißen Glatzen nieder. Die abgerissenen Figuren wirken, wie die Personifizierung der vergessenen Traumata, die „Missing Stories“ sucht.

Über 200 000 ZwangsarbeiterInnen aus Südosteuropa waren im Jahr 1944 im „Deutschen Reich“ beschäftigt. Die Stiftung „Erinnerung Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) hatte bereits 2017 den Anstoß zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Zwangsarbeit im NS-Regime gegeben. Das Goethe Institut Serbien nahm die Idee auf und lud KuratorInnen aus verschiedenen Ländern – vor allem des Westbalkans – ein, das Projekt umzusetzen. Man einigte sich auf Englisch, um keiner der Sprachen den Vorrang zu geben. Vor der letzten Station im Willy-Brandt-Haus wurden die Werke schon in Belgrad, Novi Sad, Tirana, Podgorica und in Augsburg gezeigt.

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Alle Arbeiten sind eigens für die Ausstellung geschaffen worden. Es sollten aber nicht bloße Auftragsarbeiten sein. Man habe nach KünstlerInnen gesucht, die das Thema „essentiell interessiert“, sagt Thomas Elsen, einer der deutschen Kuratoren. So kam es, dass viele der KünstlerInnen einen familiären Bezug zum Thema Zwangsarbeit hatten und diesen oft als Ausgangspunkt für ihre Arbeit wählten.

Videoinstallation von Milica Milićević und Milan Bosnić.
Videoinstallation von Milica Milićević und Milan Bosnić.

© diSTRUKTURA (Milica Milićević und Milan Bosnić), Serbien, Missing Stories

So auch „186 Breaths“ von dem Künstlerduo Milica Milićević und Milan Bosnić. Bosnićs Großvater war Zwangsarbeiter im Steinbruch des österreichischen KZs Mauthausen. Die 186 Steinstufen der sogenannten „Todesstiege“ rieb das Duo mit Bleistift auf Papier. Durch diese 186 Frottagen wird die Treppe, die sich die ZwangsarbeiterInnen mit bis zu 50 Kilogramm Steinen beladen hochkämpfen mussten, im Willy-Brandt-Haus unmittelbar anschaulich. Bosnić Großvater verstarb kurz nachdem die beiden mit ihm über seine Erfahrung gesprochen hatten.

[Willy-Brandt-Haus, bis 30.4, Di-So 12-18 Uhr, Eintritt frei mit Zeitfensterticket und Lichtbildausweis]

„Oft führt ein dringender, vom eigenen Erleben geprägter Dokumentationswunsch zu Arbeiten, die zwar den Versuch unternehmen, Realität abzubilden, aber der Ungreifbarkeit der Wirklichkeit doch auf den Leim gehen“, schreibt Tanja Drückers in einer klugen und ebenfalls ausgestellten Einordnung der Kunst. Diese Schwierigkeit hat „Missing Stories“ bewältigt: Die „Ungreifbarkeit der Wirklichkeit“ ist hier nicht übersehen, sondern ins Zentrum gestellt worden.

Zum Beispiel von Ivan Salatić in seinem Beitrag: „Wir wollten vergessen“. „Vielleicht hat er in einem Lager gearbeitet… er hat nie etwas erzählt“ murmelt die Stimme seiner Großmutter. Die Fetzen von Erzählungen sind in der Videoarbeit unter Aufnahmen der Save gelegt, an deren Ufern sich vielleicht oder vielleicht auch nicht die dunklen Szenen aus dem Leben von Salatićs Großvater abgespielt haben, die ihn so beschämten, dass er das Thema kategorisch tabuisierte. Fische ziehen unter der Oberfläche gegen den Strom. Der Großvater ist bei einem Autounfall gestorben, auf dem Weg dem vierjährigen Ivan Salatić einen Drachen zu kaufen. Fragil, wie die Erinnerung, wird da ein Drache am Himmel hin und her geworfen: blau, pink und grün fliegt er erst nach links, dann rechts, bläht sich in einer Böhe, stürzt hinab und die Papierschwänze schlängeln sich im Wind.

„Immer bleibt der Sprechende von der Gegenwart besessen. Also ist er verflucht: nie das Vergangene zu sagen, das er doch meint“, schrieb Walter Benjamin 1906. Erinnerung ist niemals vollends greifbar. Die KünstlerInnen der „Missing Stories“-Ausstellung haben verstanden, dass das Vergangene zu sagen, nur möglich ist, wenn man die Trümmer zeigt, die es der Gegenwart vermacht hat. Und etwas von diesen Trümmern steckt in uns allen.

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