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Die Serie "Disputed Utterance" berichtet von Gerichtsfällen, in denen Äußerungen von Ärzten zu Todesfällen führten.

© Aurélien Mole

Ausstellung von Lawrence Abu Hamdan: Mechanismen der Überwachung

Es geht um Leben und Tod: Lawrence Abu Hamdan stellt seine politischen Soundanalysen im Hamburger Bahnhof aus.

Über Leben und Tod kann ein einziger Buchstabe entscheiden. Beim Bungee- Springen von einer Brücke in Spanien soll eine niederländische Touristin das Kommando „Now jump“ gehört haben. Ihr Seil war noch nicht eingehakt. Die Touristin sprang in den Tod. Vor der Gerichtsverhandlung sagte der spanische Mitarbeiter der Sprunganlage, er habe „No jump!“ gerufen.

Mit sieben Geschichten über folgenschwere akustische Mehrdeutigkeiten führt Lawrence Abu Hamdan im Hamburger Bahnhof in sein Thema ein: Aussprache und Klang als Beweismittel für Justiz und Politik.

Zusammengefasst auf kleinen Schildern an der Wand, bilden diese Begebenheiten den Auftakt seiner Ausstellung „The Voice Before the Law“, „Die Stimme vor dem Gesetz“. Über den Kurztexten hat Abu Hamdan Modelle offener Münder angebracht.

Denn wie eine Person Laute artikuliert, lässt sich in der Mundhöhle analysieren: Sie wird mit einem Gemisch aus Holzkohle und Olivenöl bestrichen, auf dem die Zunge Abdrücke hinterlässt. Diese Methode hilft, Fälle wie den aus Spanien aufzuklären.

Lawrence Abu Hamdan ist für den Turner Prize nominiert

Lawrence Abu Hamdan, 1985 in Amman geboren, hat an der Abteilung für Forensische Architektur des Londoner Goldsmith Instituts promoviert und dort im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation umstrittene Todesfälle untersucht. Zurzeit ist er vor allem für seine Kunst bekannt: Vergangenes Jahr hat er den Schweizer Baloise-Kunstpreis gewonnen, zu dem 2018 die Schenkung einer Werkgruppe an den Hamburger Bahnhof gehört.

Und nun ist er für den britischen Turner Prize nominiert, der am 3. Dezember vergeben wird. Das offizielle Video zur Nominierung stellt ihn mit der Filmarbeit vor, die er während seines DAAD-Stipendiums 2017 in Berlin drehte, im Rundfunkhaus an der Nalepastraße.

Walled Unwalled“ zeigt den Künstler, wie er in den dortigen Studios hoch konzentriert Texte einspricht. Dazu gehören Aussagen ehemaliger Insassen syrischer Gefängnisse. Die mit Geräuschen unterlegte Lesung lässt Bilder von der Architektur eines Gefängnisses und akustischer Folter imaginieren.

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Selbsterklärend veranschaulicht „Walled Unwalled“, wie sich Forensik und Kunst für den Dienst an Menschenrechten und zu einer formvollendeten künstlerischen Erzählung ergänzen können.

Diese Intensität erreichen die Installationen im Hamburger Bahnhof nicht. So besteht „Conflicted Phonemes“ (2012) vor allem aus kleinen Schwarz-Weiß-Grafiken.

Analyse von somalischen Dialekten

Sie sollen nachvollziehbar machen, wie mit Hilfe von Sprachanalysen die vermeintliche Herkunftsregion Asylsuchender bestimmt und damit über ihre Zukunft entschieden wird. Als Argument gegen diese Methode setzt Abu Hamdan eine große farbige Grafik ein. Sie zeigt am Beispiel Somalias, wie politische Ereignisse und Katastrophen Menschen versprengen – und mit ihnen ihre Dialekte, die sich an neuen Orten vermischen und verändern.

Man müsste die Grafiken genau studieren, doch ist Konzentration kaum möglich. Das liegt am Stress, den die dritte Arbeit auslöst. In dem zum Durchgang verengten mittleren Saal flackern und lärmen acht Flachbildschirme. Sie zeigen Männer, die über Hügel auf einen Zaun zulaufen und palästinensische Flaggen schwenken.

Auf den hinteren Monitoren haben einige diesen Zaun überwunden und umarmen weitere Männer. Die Rufe, die den Saal erfüllen, klingen jedoch nicht freudig, sondern drängend, verängstigt, mitunter panisch.

Die Bilder stammen offenbar von Mobiltelefonen, Quellenangaben gibt es keine. Es soll sich um Aufnahmen vom 15. Mai 2011 handeln, als Demonstranten auf den Golan-Höhen auf israelisches Gebiet vordrangen.

Die Rufer warnen die Vordringenden vor Landminen, heißt es in einem Text von Abu Hamdan, doch Minen habe es dort nicht gegeben. Vier Demonstranten seien später von israelischen Soldaten getötet worden.

Auf die Aussagen des Künstlers verlassen

Auch diese Arbeit müsste man genau studieren. Nichts ist eindeutig, so lautet ohnehin ein Fazit aus dem Werk von Lawrence Abu Hamdan. Doch im Hamburger Bahnhof müssen sich Besucher auf die Aussagen des Künstlers und des ausliegenden Katalogbändchens verlassen. Das reicht bei Weitem nicht, gerade angesichts des Nichtwissens eines hiesigen Publikums über Sprachen in Somalia und die Bevölkerung der Golan-Region.

[Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, bis 9.2.; Di, Mi, Fr 10-18, Do 10-20, Sa/So 11-18 Uhr]

Schön wäre deshalb ein Studienraum mit Hintergrundmaterial und freiem WLAN-Zugang gewesen, wie er sich in Museen ja gelegentlich finden lässt. Schließlich ist kaum anzunehmen, dass sich Besucher daheim an den Computer setzen, um Gesehenes wie Gehörtes zu überprüfen und einzuordnen.

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