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Thao Nguyen Phan, „First rain, Brise-soleil“, eine Drei-Kanal-Videoinstallation von 2021.

© Roberto Marossi

Aus dem Schatten: Eine spektakuläre Schau von Thao Nguyen Phan im HangarBicocca

Die Mailänder Pirelli-Stiftung lädt junge Künstler und Künstlerinnen in ihre monumentalen Ausstellungsräume – und verlangt keinen Eintritt.

Ein Mädchen steht auf einem Wasserbüffel. Entspannt hält die kindliche Figur ihr Buch in der Hand, liest in aller Ruhe, als sei ein Büffel auf dem Weg durch den Fluss das normalste Transportmittel der Welt. Das Motiv ist eines von 28 mit Akribie auf Seide gemalten Aquarellen, die im Kreisrund durchwandert und erkundet werden können. Ein Junge auf einer Rolltreppe, ein Zug auf einer Brücke, die Rückseite eines weiteren Bildes zeigt zwei junge Menschen in einer Schneelandschaft.

„Dream of March and August“ nennt Thao Nguyen Phan ihre Installation mit alltäglichen und surrealen Szenarien um das Geschwisterpaar, dessen Namen für die zwei entbehrungsreichsten Monate im Erntejahr Vietnams stehen. Inspiriert, so Phan, sind die Bilder vom japanischen Literatur-Nobelpreisträger Yasunari Kawabata und dessen magischem Realismus. Ein Begriff, der auch die Werke der 1987 geborenen Künstlerin treffend umreißt, ebenso wie die Gesamtkomposition ihrer großartigen Ausstellung im Mailänder HangarBicocca.

Der HangarBicocca zeigt seit 2004 spektakuläre Ausstellungen

Die ehemalige Lokomotivfabrik, die auf 15000 Quadratmetern drei Hallen für zeitgenössische Kunst bietet, wurde 2004 mit Anselm Kiefers Dauer-Installation „The Seven Heavenly Palaces“ eröffnet und präsentiert heutzutage als Stiftung Pirelli HangarBicocca – bei freiem Eintritt und rund 200 000 Besuchern pro Jahr – Kunst der Superlative. Darunter Stars wie Marina Abramović oder Bruce Nauman und aufstrebende Künstler und Künstlerinnen wie die junge Vietnamesin, die von Galerie Zink in Waldkirchen (die lange in Berlin präsent war) vertreten wird und bereits in der Tate Modern wie auf der Venedig-Biennale präsentiert wurde.

Die abgedunkelte Atmosphäre in dem 1400 Quadratmeter großen einstigen Schuppen evoziert eine Zwischenwelt von Traum und Wirklichkeit. Lichtinseln gleich sind die Malereien und Videoarbeiten, Installationen und Objekte zu einem überwältigenden Environment gruppiert .„Reincarnation of Shadows“, so der Titel der Ausstellung und des neuesten Videos. Als „bewegtes Bild-Gedicht“ bezeichnet Phan die ebenso spannende wie berührende Hommage an die erste weibliche Bildhauerin Vietnams. Kleinskulpturen von Diem Phung Thi wurden für die Ausstellung ausgeliehen, und in einem Zwei-Kanal-Video würdigt Phan die 2002 verstorbene Künstlerin, die Jahrzehnte im französischen Exil lebte, mit Fotografien und Interview-Fragmenten.

1945 verursachten die Japaner eine Hungersnot in Phans Heimat

Der Schatten stellt für Thao Nguyen Phan ein duales Konzept dar, hebt das Wesentliche eines Objekts hervor und ist eng mit der Wiedergeburt verbunden. „Ich bin in einer konventionellen buddhistischen Familie aufgewachsen, und Reinkarnation ist meiner Meinung nach unsere Fähigkeit, durch eine Reihe von Transformationen zu gehen“, sagt die zarte Frau, die, sobald sie über ihre Kunst spricht, eine beeindruckende Energie und Klarheit ausstrahlt.

Ausgebildet wurde die Multimedia-Künstlerin in ihrer Heimatstadt Ho Chi Minh City in traditioneller Lackmalerei, später studierte sie am Art Institute of Chicago und im Rahmen eines Rolex-Stipendiums war Joan Jonas, US-amerikanische Doyenne der Performance- und Videokunst, ihre Mentorin.

In „Mute Grain“ (Stummes Korn) begegnen wir March und August wieder. Die filmischen Animationen ihrer Aquarelle verknüpft Phan in dem Schwarzweißfilm mit Fotografien der Hungerkatastrophe, die 1945 durch die japanische Besatzung verursacht wurde und der zwei Millionen Vietnamesen zum Opfer fielen. In Anlehnung an eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Tô Hoài untersucht „Mute Grain“ das bis in die Gegenwart wirkende kollektive Trauma.

Die Werke verweben traumatische und poetische Episoden

Die Okkupanten befahlen den Bauern, statt Reis nun Jute für militärische Zwecke anzubauen. Die Installation „No Jute Cloth for the Bones“ spielt auf diesen Zwangsanbau und seine verheerenden Folgen für die Bevölkerung an. Ein Vorhang aus rohen Jutestäben, die wie Knochen von der Decke hängen, ist Mahnmal und rituelle Klangpassage zugleich.

Die komplexen Videos – darunter „First Rain, Brise Soleil“, in dem Architekturhistorie auf die Biografie eines Arbeitsmigranten trifft und auf die Liebe zwischen einem Vietnamesen und einer Khmer-Frau – verweben Tradition und Gegenwart, traumatische und poetische Episoden, Zitate von Marguerite Duras mit Volksmythen, Geschichten vom Buddhismus und vom Mekong. Der durch sieben südostasiatische Länder fließende Mekong ist eine Inspirationsquelle für Phan. Seine Funktion als Lebensader und seine Gefährdung durch Umweltverschmutzung. Ihre Assoziationen zeigen die zwei Seiten der Conditio humana, wobei die Schönheit zum subversiv ästhetischen Kampfmittel wird, um Missstände und Verdrängtes bewusst zu machen, aber auch um sie bewältigen zu können.

Mit ihren fabelhaften Video-Installationen – in denen sich die Malerei so selbstverständlich in Filme mit anmutigen Schauspieler*innen einfügt, in von Sound unterlegte Natur- und Großstadtaufnahmen – spannt Phan große und eindrückliche Bögen über existenzielle Themen, über Raum und Zeit.

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