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Kultur: Aus dem Hinterzimmer ins Stadion

BERLINALE SPECIAL „Marley“ porträtiert Jamaikas größten Star. Eine Erinnerung an den Musiker und ein Treffen mit Regisseur Kevin Macdonald.

Meine erste Begegnung mit Bob Marley lief nicht so gut.

1971 war ich der erste Amerikaner , der über Reggae schrieb – Dank eines Single-Stapels, der per Post bei mir ankam. Wie sich herausstellte, gehörten die Platten zu einem Film, der noch gar nicht fertig war: „The Harder They Come“. Meine Neugierde führte mich zum Freund eines Freundes namens Chuck, ein Fotograf, der in Jamaika im Peace Corps gewesen war und alles über dieses Zeug wusste. Wir wurden ziemlich gute Freunde und als die Wailers 1973 auf ihrer Tour nach San Francisco Halt machten, besuchten Chuck und ich sie. Es war ein großes Durcheinander, an dessen Ende ich mich im Flur des Motels wiederfand, während Chuck in einem der Zimmer war. Ich ging weg – verwirrt. Derweil machte Chuck einige klassische Fotos von Marley.

Die zweite Begegnung war dann schon besser. Der „Rolling Stone“ schickte mich 1975 nach Kingston. Der Auftrag war, über das Stevie-Wonder-Konzert im National Stadium zu schreiben, bei dem es auch zur Reunion der drei Original-Wailers kommen sollte. Letzteres interessierte meinen Redakteur allerdings überhaupt nicht, weshalb ich eine Reggae-Geschichte an das neue Magazin „Mother Jones“ verkaufte.

Ein Presseagent brachte mich und einen anderen amerikanischen Journalisten mit Marley zusammen, der uns am Abend vor dem Konzert in sein Probenstudio in der Hope Road 86 in Kingston einlud. Dort gaben uns die Wailers ein Privatkonzert, das keiner von uns jemals vergessen hat. Aber Bob redete kein Wort mit uns.

Man denkt, man wüsste, was sich direkt vor den eigenen Augen abgespielt hat. Aber Dank der erstaunlichen Dokumentation „Marley“ von Kevin Macdonald habe ich neue Fakten über diese beiden Ereignisse erfahren. So war zum Beispiel Bunny Wailer gar nicht auf der Amerika-Tour dabei. Ihn ersetzte Joe Higgs, ein wenig bekannter Meister, der Bob Marley dabei geholfen hatte, zu lernen, wie man Songs schreibt. Außerdem entdeckte ich, dass Bob Marley und Stevie Wonder sich beim Konzert im National Stadium so gut verstanden hatten, dass Wonder Marley bat, sein Konzert im New Yorker Madison Square Garden zu eröffnen. Es war sein Durchbruch in den Staaten .

Für die meisten Leute wird „Marley“ ein ähnliches Aha-Erlebnis sein wie damals „The Harder They Come“: ein Fenster in eine Welt, die den meisten von uns unbekannt ist, und die größtenteils verschwunden ist. Macdonald, der 2006 mit seinem Spielfilm „Der letzte König von Schottland“ bekannt wurde, gelingt es, sehr genau zu zeigen, woher Marley kam. Er verortet ihn sowohl im Kontext der sich wandelnden jamaikanischen Gesellschaft als auch im Kontext der Rastafari- Religion und dem aufblühenden jamaikanischen – und internationalen – Musikgeschäft. Dabei geht der Regisseur so elegant und ehrlich zu Werke, dass man seine Kunstfertigkeit gar nicht bemerkt.

„Bob wird sehr geliebt, aber die Leute wissen wenig über ihn“, sagt der 44-jährige Macdonald bei einem Gespräch in einem Londoner Café. „Es war eine echte Herausforderung: Es gibt keine Bilder von ihm, auf denen er jünger als 16 Jahre ist. Von den ersten elf Jahren seiner Karriere gibt es kein Filmmaterial. Und 80 Prozent der Leute, mit denen ich gesprochen habe, wussten nicht, dass sein Vater weiß ist.“ Ich wusste das zwar, aber der Film zeigt, dass es tatsächlich eine Frage von Leben und Tod war. Denn es spielte nicht nur eine große Rolle in Marleys Selbstwahrnehmung, sondern es war auch ein entscheidender Faktor beim Hautkrebs, an dem er schließlich starb. Wenn Marleys weiße Familienmitglieder im Film zu Wort kommen, ist das teilweise recht dramatisch.

Die Dokumentation ist zweieinhalb Stunden lang, doch wegen des gekonnten Storytellings fühlt es sich viel kürzer an. Es ist eine aufregende Geschichte, die aufregend erzählt wird. Und zwar genau in der richtigen Geschwindigkeit, so dass jeder, der sich auch nur ein wenig für das Thema interessiert, davon gefesselt sein wird. Die Besetzung ist so spannend wie bei einem Spielfilm: Dorfbewohner aus Marleys Geburtsort Nine Mile, Jugendfreunde, die mit ihm im Ghetto von Kingston herumgehangen hatten, diverse Liebhaberinnen, darunter Cindy Breakspeare (Miss World von 1976) und Chris Blackwell, dessen Label Island Records Marley Musik in die Welt brachte.

Es grenzt an ein Wunder, dass „Marley“ überhaupt gedreht wurde: Produzent Steve Bing hatte mit der Familie des Musikers über die Rechte verhandelt, und eigentlich sollte Martin Scorsese Regie führen, mit dem Bing beim Rolling Stones-Film „Shine a Light“ zusammengearbeitet hatte. Doch letztlich hatte Scorsese keine Zeit und gab das Projekt an Jonathan Demme weiter, der ein paar Aufnahmen machte, dann aber aufgab. „Ich musste ganz von vorn beginnen“, sagt Macdonald. „Demme hatte eine völlig andere Richtung eingeschlagen. Wir konnten die Interviews nicht noch einmal machen. Es war sehr viel Arbeit, vor allem in Jamaika.“

Ein großes Problem bestand darin, dass viele der Leute tot sind, die etwas zu der Geschichte hätten beitragen können. Von den Original-Wailers lebt nur noch Neville Livingston, ein Kindheitsfreund von Bob Marley, besser bekannt als Bunny Wailer. Er ist dafür bekannt, ein schwieriger Typ zu sein. Glücklicherweise machte er mit – was Macdonald viele Türen öffnete. Darüber hinaus kommentiert er Marleys Leben und seine Zeit auf höchst redegewandte und aufschlussreiche Weise. Neville Garrick, der nach Bunnys Abschied als Musical Director mit der Band gearbeitet hatte, ist vor allem im zweiten Teil des Films eine unschätzbare Bereicherung.

Außerdem hat Macdonald einen Kerl namens Dudley Sibley aufgestöbert, der als Putzkraft im legendären Studio One von Kingston gearbeitet hatte. Dort teilte er sich einst mit Marley ein Hinterzimmer. Niemand hat ihn bisher nach seinen Erfahrungen gefragt. Er erzählt einige denkwürdige Anekdoten aus Marleys frühen, harten Jahren.

„Am meisten hat mich Bobs Botschaft interessiert, warum sie so viele Menschen angesprochen hat“, sagt Kevin Macdonald, der 60 Menschen für seinen Film interviewt hat. „Es ist das erste Mal, dass so viele Leute geredet haben“, fügt er hinzu. Während unseres Interviews sage ich, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass Marley mich sonderlich mochte. „Ich glaube, dass er weiße Journalisten generell nicht mochte. Deshalb redet Bob auch so wenig im Film“, erklärt Macdonald. Doch das fällt kaum auf, denn durch seine Musik ist Marley ständig präsent.

Um etwas mit „Marley“ anfangen zu können, muss man kein Reggae-Fan oder überhaupt Musik-Fan sein. Denn er führt tief hinein in die Welt eines Mannes, der einen enormen Beitrag zur Popkultur geleistet hat. Kevin Macdonald zeigt, warum Bob Marley für Menschen von Uganda bis Indien ein Held ist und warum sie in ihm eine Ikone des Empowerment sehen.

Und für zweieinhalb Stunden rockt der Film. Das ist eine echte Leistung.

Ed Ward, Jahrgang 1948, US-Musikjournalist und Radiokommentator. Er arbeitete unter anderem für den „Rolling Stone“ und „Creem“. Seit 2008 lebt er in Frankreich. Übersetzung von Nadine Lange.

Ed Ward

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